Ein bitteres Erwachen

Wolfgang Schnur führte ein Leben, in dem sich die Geschichte des DDR-Wendeherbstes spiegelt, konzentriert, auflöst

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt nicht viele solche Personen, in deren Biografien sich die ganze Geschichte des DDR-Wendeherbstes auf so vertrackte und widersprüchliche Weise spiegelt, konzentriert, auflöst - Wolfgang Schnur gehörte dazu. Der Rechtsanwalt war Figur der Erneuerungsbewegung - und trug mit seiner Tätigkeit als Stasi-IM zugleich das Alte in sich. Er war Mitgründer des Demokratischen Aufbruchs (DA), der ursprünglich eine andere DDR anstrebte - und wurde einer der Totengräber des Traums von einem eigenständigen, dritten Weg. Schnur stieg schnell auf - und stürzte schnell ab. Und dabei hinterließ er doch seine bis heute sichtbare Spuren: Er holte Angela Merkel in die Politik.

Bis dahin war es ein weiter Weg, einer, der nicht einfach begonnen hatte und auf dem freiwillig zu gehen man sich selbst nur schwer vorstellen kann. Waisenkind, Maurerlehre, Jurastudium - und mit gerade einmal 20 dann von der Staatssicherheit angesprochen. Das war 1964, Schnur unterschrieb, gab Informationen über Mandanten, Oppositionelle preis.

Sich bezeichnete er einmal als »Verräter«, ein Geheimnis, dass sein Leben zu einem »Aggregatzustand« aus selbst so aufgefasster Berufung und Beschweigen werden ließ. Seit den 1980er Jahren hatte Schnur als Vertrauensanwalt der Kirche Dissidenten und Wehrdienstverweigerer vertreten. Er stand in Kontakt zum Vater der heutigen Kanzlerin, machte Merkel 1990 zur Pressesprecherin des DA, dessen Vorsitzender Schnur schon Ende Oktober 1989 geworden war. Er gehörte dem Runden Tisch an, musste von dort nach Korruptionsvorwürfen aber wieder abtreten.

In seinem bemerkenswerten Dokumentarfilm »Aufbruch zur Macht« hat Thomas Grimm 2005 noch einmal das Momentum jener Zeit dem Vergessen entrissen, ein Momentum, das in der offiziellen Erinnerung an die Wende meist keinen Platz hat. »Wir wollten eine bessere DDR«, sagt da Sonja Süß, die damals Vizevorsitzende des Demokratischen Aufbruchs war. Doch Schnur steuerte schon früh auf einen ganz anderen Ausgang der Geschichte hin.

Spätestens nach dem Fall der Mauer sah er sich und damit auch die Organisation als Teil des Zuges Richtung Deutsche Einheit. Edelbert Richter erinnerte sich später einmal, wie er Schnur im Scherz sagte, »wenn Du auf dieses Pferd steigst ...«. Schnur sah das tatsächlich als große Chance und führte den Demokratischen Aufbruch unter Helmut Kohls »Mantel der Geschichte«. Im Dezember 1989, beim Parteitag in Leipzig, war von alternativen Sozialismuskonzeptionen schon nicht mehr die Rede. Stattdessen »waren da lauter Leute eingeladen, die zu uns nicht passten«, wie es Friedrich Schorlemmer einmal sagte - Unionspolitiker aus dem Westen, CDU und CSU im Ost-Wahlkampf.

Schnur sah sich als Macher. Auf einem der frühen Treffen des Demokratischen Aufbruchs sagte er, nun sei die Stunde der Juristen gekommen - damals erntete er dafür noch freundliches Lachen. Nachdem sich die Marktwirtschaftler, Konservativen, Einheitsfreunde in dem zunächst viel breiter angelegten DA durchgesetzt hatten, verließen viele Linke das Projekt - Richter, Schorlemmer, auch die Publizistin Daniela Dahn, die als Mitglied der SED den Aufbruch auch vieler kritischer Sozialisten in der Staatspartei verkörperte und im DA deshalb anfangs »mit Extrabeifall« bedacht wurde.

Schnur wollte DDR-Ministerpräsident werden, mehr noch: Er sah sich bereits vor der Wahl in diesem Amt. Der Demokratische Aufbruch war von ihm zum Teil der Allianz für Deutschland gemacht worden, das auf Helmut Kohl zugeschnittene Wahlbündnis, die Kandidatur mit der meisten Unterstützung aus dem Westen. Dann der Paukenschlag: Wenige Tage vor der Volkskammerwahl im März 1990 wurde seine frühere Tätigkeit für das Ministeriums für Staatssicherheit gezielt bekanntgemacht. Der Demokratische Aufbruch erhielt bei den Wahlen nur 0,8 Prozent.

Alexander Kobylinski, selbst von Schnur zu DDR-Zeiten vertretener Mandant, schrieb später einmal, ehemalige Führungsoffiziere hätten dem Runden Tisch gesteckt, was Schnurs wahre Berufung lange gewesen war. Er selbst erzählte es aus der anderen Perspektive so: »Die letzte Begegnung mit dem Führungsoffizier war eine bittere. Er musste für sich erkennen, dass er mich für immer verloren hat.«

Schnur erkrankte nach seinem politischen Totalabsturz bald schwer - und bekam juristische Probleme. Seine Rolle im Wendeherbst schrumpfte in den meisten Rückblicken auf die des enttarnten Stasi-IM. Sein politischer Beitrag dazu, das linke, soziale, ökologische Aufbegehren in der DDR in Richtung einer national-bürgerlichen Einheitsbewegung zu lenken, geriet dagegen in den Schatten. Ein Beitrag, der so wenig zum Bild des Stasi-IM passt.

Am 4. November 1989, Hunderttausende demonstrierten auf dem Berliner Alexanderplatz für Erneuerung, ein Ende der SED-Herrschaft und für eine andere DDR, da stand auch Friedrich Schorlemmer vor der Menge: »Ist das alles nur ein Traum, aus dem es ein bitteres Erwachen gibt?« In der tragischen Figur Wolfgang Schnur fand die Frage ihre Antworten: ein abgebrochener Aufbruch, ein verratener Verräter, eine Wende, die ein Ende wurde.

Am 16. Januar ist Wolfgang Schnur mit 71 Jahren in Wien gestorben.

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