Unaufgeräumte Vergangenheit

In seinem neuen Buch »Tränen ohne Trauer« will Per Leo mit der deutschen Holocaust-Gedenkkultur aufräumen. Seine Thesen fügen sich in eine Debatte, die inzwischen als neuer Historikerstreit bezeichnet wird - und für eine erinnerungspolitische Wende sorgen dürfte

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 7 Min.

Wie werden wir wohl in 30 Jahren auf das Jahr 2020 zurückblicken? Wird es allein als das Jahr der Pandemie im Gedächtnis bleiben? Oder werden wir uns auch noch daran erinnern, dass hierzulande im März 2020 gefordert wurde, den kamerunischen Historiker Achille Mbembe von der Ruhrtriennale auszuladen, weil er mutmaßlich antisemitische Israelkritik betreibe, die antizionistische Kampagne »Boycott, Divestment and Sanctions« (BDS) unterstütze und die Singularität des Holocaust relativiere?

Jedenfalls entfachte die Ausladung Mbembes eine heftige Debatte über Antisemitismus und (Post-)Kolonialismus. Sie entbrannte in der Folge auch über Michael Rothbergs Konzept der »Multidirektionalen Erinnerung«, Hedwig Richters Sicht auf die Bedeutung des Kaiserreichs für die deutsche Demokratie und über A. Dirk Moses’ Angriff auf das Holocaust-Gedenken in der Bundesrepublik, das er als »Katechismus der Deutschen« bezeichnete. Inzwischen ist gar die Rede von einem »Neuen Historikerstreit«. Das spielt auf die Debatte 1986/87 an, in welcher der Historiker Ernst Nolte den Holocaust als eine den Deutschen gewissermaßen wesensfremde, »asiatische Tat« hinzustellen versuchte, die den Nazis durch den Bolschewismus geradezu aufgezwungen worden sei. Schon damals wurde auch nach der Eigenheit und Einzigartigkeit des Massenmords an den europäischen Juden gefragt. Heute geht es vor allem um dessen Verhältnis zu den deutschen Kolonialverbrechen.

In dem nun neu erschienenen Buch »Tränen ohne Trauer« des Historikers und Autors Per Leo wiederum sollte es eigentlich gar nicht um die Singularität des Holocaust gehen, sondern um das vielfältige Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Erbe des Nationalsozialismus. Und doch wird Ersteres anlässlich der erneuten Debatte zu einer Art wissenschaftstheoretischem Nadelöhr für die Thematisierung des Letzteren. Denn Leo geht es hier weniger um die Frage, wer denn nun eigentlich Recht habe: die Vergleichsapologeten oder die Unvergleichlichkeitsapostel. Es geht ihm um die Voraussetzungen, unter denen die Rede von der Singularität des Holocaust überhaupt Sinn ergibt beziehungsweise den Anforderungen wissenschaftlicher Redlichkeit entspricht - oder eben nicht.

Umstrittene Erinnerungskultur

Wenn etwa der deutsch-israelische Historiker Dan Diner Auschwitz und den Holocaust als außerhistorisches »Vakuum« bezeichnet, das »mit der Annullierung des Glaubens an die Aufklärung jene Stelle ein(nimmt), die vormals Gott vorbehalten war«, dann zeige dieser in seiner dogmatischen Form offensichtliche wissenschaftliche »Regelbruch eine außerwissenschaftliche Wahrheit«, so Leo: »Konsequent zu Ende gedacht, führt die Frage nach der Singularität des Holocaust also zu einer Alternative, die sich nur mit Mitteln der Philosophie, wenn nicht der Theologie, überhaupt auf den Begriff bringen lässt.« Für die Geschichtswissenschaft sei es dagegen ergiebiger, statt über die Singularität des Holocaust eher über dessen Spezifik nachzudenken - was Diner in seiner Forschung freilich auch ausgiebig getan habe.

Demgegenüber stehen jedoch aktuelle Debattenbeiträge, in denen das »Singularitätsdogma« kein ›geöffnetes Fenster‹ zu einer höheren Wahrheit - und damit den Beginn einer Diskussion - bedeute, sondern die ›zugeknallte Tür‹ eines diskurspolitischen Machtworts. So etwa in Äußerungen des Kunsthistorikers Horst Bredekamp, des CDU-Politikers Ruprecht Polenz und schon in der Überschrift eines Textes des Publizisten Thomas Schmid in der Tageszeitung »Die Welt«: »Der Holocaust war singulär. Das bestreiten inzwischen nicht nur Rechtsradikale«. Schmid versuche gegen diese, so Leo, Aufklärung und Universalismus zu verteidigen, habe dafür aber nichts zu aufzubieten »als ein Dogma und ein paar herbeizitierte Autoritäten (…). Vor wem bitte könnten solche Meisterdenker die Aufklärung schützen, wenn nicht vor sich selbst? In ihrer Studentenzeit hätten sie aber wohl wenigstens noch gewusst, wie man einen Machtanspruch bezeichnet, der sich nicht nur als Wissen tarnt, sondern auch als das Gegenteil dessen ausweist, was er ist: als Ideologie.«

Nach diesem polemischen Fieberschub versucht Leo nun das »historische Fieber« zu mäßigen, das er im Anschluss an Friedrich Nietzsche unserer Zeit attestiert und das darin bestehe, dass in Deutschland vom Nationalsozialismus oft »maßlos« gesprochen, meistens also eher dahergeredet werde. Leo resümiert hierfür einige Leitideen, die nach 1945 für die Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe geprägt wurden: etwa die in der BRD so zwingend notwendige wie zum Scheitern verurteilte »Entnazifizierung« oder den in der DDR doktrinär zu verkündenden - und daher kaum konkret umzusetzenden - »Antifaschismus«. Dass die in der BRD in den 1950ern einsetzende juristische »Aufarbeitung« anschließend von den ’68ern angesichts ihres ›Elternschocks‹ kaum gewürdigt wurde, findet Leo nicht weiter verwunderlich. Und doch dauerte es eine Weile, bis diese Generation selbst ihren Schock in eine echte »Vergangenheitsbewältigung« zu überführen vermochte, die schließlich eine vielfältige »Erinnerungskultur« hervorgebracht habe.

Und wenn der 1972 in der BRD geborene Per Leo sich auch durchaus dieser Kultur zugehörig fühlt, wendet er gleichwohl einige Akribie auf, um sein »Unbehagen« an ihr auszubuchstabieren. Zugespitzt formuliert: Die geschichtspolitische Wende der 1980er Jahre, wie sie exemplarisch in Bundespräsident Richard von Weizsäckers Rede zum Tag der »Befreiung« 1985 zum Ausdruck kommt, habe über eine fragwürdige Identifikation mit der jüdischen Opferperspektive zugleich eine Entlastungsfigur geschaffen, die im Land der Täter nur allzu willkommen sein musste. Dabei hätte sich die einseitige Fokussierung auf die sechs Millionen jüdischen Opfer - die schließlich im Berliner »Holocaust-Mahnmal« ihre bleibende Ausformung fand und im damit verbundenen Singularitätsdogma die fünf Millionen ermordeten Slawen, Sinti, Roma sowie alle übrigen für lebensunwert befundenen Menschengruppen marginalisierte - gerade im Land der Täter eigentlich verboten, so Leo.

Das zeige sich nicht zuletzt daran, dass diese Haltung nicht ohne ihre Kehrseite auskomme, die von Martin Walsers Polemik gegen die »Moralkeule Auschwitz« in seiner Paulskirchen-Rede 1998 bis zu den »Schuldkult«-Tiraden der AfD von heute reicht. Doch beide Haltungen, das »Erinnerungsgebot und der Vergessenswunsch (...) vermeiden die doppelte Mühe, ohne die man eine solche Tat niemals loswird: die Aufklärung des Verbrechens und das Eingeständnis, dass die Perspektive des Opfers dem Täter nicht zur freien Verfügung steht.«

Für einige Linke schließlich, die Leo zufolge eine »180-Grad-Wende vom propalästinensischen Antizionismus zur enthusiastischen Israelliebe« vollzogen, hielten beide Haltungen zu sehr an der Vorstellung einer deutschen Nationalidentität fest, der die Bewegung der »Antideutschen« eine zionistisch inspirierte Absage erteilte. Dazu Leo: »Nach der opferzentrierten Erinnerungskultur vor 1989 war die Idealisierung Israels nach 1990 der zweite Kulturimport, der den Blick für die Ambivalenzen der deutschen Lage vernebelte.« Letzteres gelte übrigens ebenso auch für die umstandslose Parallelisierung von DDR und »Drittem Reich« als den »zwei deutschen Diktaturen«.

Gedenken und Nahostkonflikt

Doch Per Leos wissenschaftlicher Essay nähert sich dem Umgang mit historischer Schuld nicht allein durch das, was dem Historiker »nur in echten Notlagen erlaubt ist: (...) angestrengt nachdenken«, sondern auch mit leichteren Erzähltönen. Leo selbst ist als Autor in verschiedensten Genres bekannt geworden, mit seiner ideengeschichtlichen Dissertation »Der Wille zum Wesen«, dem autobiografischen Roman »Flut und Boden« und dem gemeinsam mit Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn verfassten politischen Sachbuch »Mit Rechten reden«. Angesichts dieser Vielseitigkeit könnte man Leos Schaffen vielleicht auch in formaler Hinsicht unter der Maßgabe betrachten, die er in den Worten des US-Historikers Peter Novick seinem neuen Buch inhaltlich zugrunde legt: »Will man aus einer Begegnung mit der Vergangenheit wirklich etwas lernen, dann muss diese Vergangenheit in ihrer ganzen Unaufgeräumtheit erscheinen.«

Dieser Unaufgeräumtheit habe die Arbeit zahlreicher Forscher in den vergangenen vierzig Jahren Rechnung getragen. Sie werde Leo zufolge aber unterschlagen, wenn die mit der Opferidentifikation verknüpfte Vorstellung von der Singularität des Holocaust die Deutschen daran hindert, sich durch eine kontextbezogene Erforschung und Aufarbeitung der eigenen Schuld auch tatsächlich von ihr emanzipieren zu können. Denn die eingangs kritisierte Ideologie der Singularität nütze, so Leos Pointe, letztlich niemandem mehr - am wenigsten vielleicht den Juden und Israelis selbst. Die sähen sich etwa infolge der Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestags »mit dem absurden Umstand konfrontiert, dass der Nachfolgestaat des Dritten Reichs ihre Grundrechte einschränkt, um Israel vor ›Antisemitismus‹ zu schützen.« Leo plädiert dagegen für eine klarere Unterscheidung von Antisemitismus und Antizionismus im Rahmen eines globalen Blicks auf die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts, wie ihn etwa der englische Historiker Mark Levene vertritt.

So werde zuletzt deutlich, »dass die einzige Alternative zu einer gefühligen Erinnerungskultur und das einzig wirksame Mittel gegen den Hochmut der Schuldvergessenheit in einer lebendigen Geschichtskultur lagen - und liegen«, schreibt Leo. Paradoxerweise gelingt es ihm, mit seinem ›unaufgeräumten‹ Buch einiges an Ordnung in eine aufgeheizte Debatte und überhaupt in eine nur scheinbar mit deutscher Gründlichkeit gepflegte Erinnerungskulturlandschaft zu bringen. Er tut das außerdem mit beeindruckender stilistischer Brillanz (inklusive Selbstironie), die Analytisches mit Anekdotischem, die ästhetischen Qualitäten eines literarischen Essays mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Abhandlung verbindet. Und wenn man nun - wenig überraschend - einigen (oder gar allen) von Leos Thesen widersprechen möchte? Dann hat er immerhin der Gegenrede einen soliden Streitgrund bereitet.

Per Leo: Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur. Klett-Cotta, 272 S., geb., 20 €.

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