Begrenzte Freiheit
»L’Avenir«/Wettbewerb
Sag’ mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist. Diese etwas abgedroschene Prophezeiung auf Nathalie (Isabelle Huppert) anzuwenden, ist nicht schwer. Bücher stehen bei ihr überall, die Wände ihrer Wohnung sind gepflastert mit Bücherregalen. Nathalie ist Philosophielehrerin am Gymnasium, ihr Mann Heinz (André Marcon) Literaturprofessor. In den Ferien fährt man mit den Kindern auch schon mal nach Saint-Malo und verneigt sich vor dem Grabmal Châteaubriands.
Nathalie hat sich in ihrem geistigen wie materiellen Leben eingerichtet. Die Kinder sind mittlerweile aus dem Haus, und die angeregten Konversationen mit ihren Schülern genießt sie. Auf Trab hält sie ebenfalls ihre betagte und possessive Mutter, die regelmäßig mit Suizid droht, um die Aufmerksamkeit ihrer Tochter zu erzwingen. Die 25-jährige Ehe mit Heinz und seine Präsenz hält Nathalie dagegen für selbstverständlich. Bis er ihr eines Tages eröffnet, dass er sie für eine Andere verlassen wird.
Nach ihren filmischen Reflexionen über das Filmbusiness (»Der Vater meiner Kinder«) und die Jugend (»Eine Jugendliebe«) wendet sich Regisseurin Mia Hansen-Løve nun dem Schicksal einer reiferen Frau zu. Kann eine Frau über 50 ihr Leben noch einmal neu gestalten? Nachdem ihre Mutter gestorben ist, sieht sich Nathalie mit einer quasi grenzenlosen Freiheit konfrontiert. Für niemanden außer für sich selbst ist sie nun verantwortlich.
Und doch sitzt Nathalie nicht nur familiär, sondern auch ideologisch zwischen den Stühlen. Ihre Schüler streiken? Dafür hat Nathalie - sie war nach eigenen Angaben in ihrer Jugend exakt drei Jahre lang Kommunistin - kein Verständnis. Eine Bürgerliche, die sich mit einigen Demos oder Unterschriftenaktionen ein gutes Gewissen verschaffe, sei sie, findet ihr ehemaliger Schüler Fabien (Roman Kolinka). Der junge Anarchist kämpft aktiv gegen Ausweisungen von Flüchtlingen und lässt sich schließlich in einer Kommune auf dem Land nieder.
Was bringt also Nathalies im Filmtitel beschworene Zukunft? Bisher hatte sie sie nicht hinterfragt, sie schien in der Arbeits- und Familienroutine vorgezeichnet. Fabien dagegen findet, dass man Zukunft gestalten kann und muss. So fungiert Nathalies von der Mutter geerbte Katze Pandora wohl sinnbildlich als Dosenöffner für das ungeschriebene nächste Kapitel ihres Lebens. Das ruft zwar keine Katastrophen hervor, steht aber für etwas nicht minder Beängstigendes: das Ungewisse.
Ob der Heldin, die Isabelle Huppert gewohnt formidabel mit Entschlossenheit und Verletzlichkeit zugleich spielt, wohl ihr geliebter Rousseau - intellektueller Revoluzzer und Befürworter des subjektiven Liebesgefühls - bei der Gestaltung ihres weiteren Lebens helfen kann? Das Ende des Films ist offen. Es ist ein Film über die Generationen, über das Loslassen und darüber, wie Bücher im Dschungel der unbegrenzten Lebensfreiheiten Orientierung bieten können.
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