Merkel: Zahl der Flüchtlinge muss für alle verringert werden
EU-Türkei-Gipfel geht in die Verlängerung / Menschenrechtskommissar des Europarats fordert mehr Schutz für geflüchtete Frauen und Mädchen / Zentralrat der Muslime warnt vor Alleingängen der Staaten
Brüssel. Die Verhandlungen beim EU-Gipfel mit der Türkei zur Flüchtlingpolitik sind schwieriger als erwartet. Statt den Teil mit der Türkei bereits am Nachmittag abzuschließen, werde der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nun auch zum Abendessen bleiben, sagte ein EU-Vertreter am Montagnachmittag in Brüssel. Davutoglu habe in einer ersten Runde »einige neue Ideen und neue Vorschläge« präsentiert. »Sie bieten mehr, sie verlangen mehr.«
Nach ursprünglicher Planung sollte der Gipfel zwei klar getrennte Teile haben. Der Abschnitt mit der Türkei sollte bis 15 Uhr abgeschlossen sein. Danach wollten die europäischen Staats- und Regierungschefs unter sich über die Lage der Flüchtlinge innerhalb EU beraten. Dabei sollte es insbesondere um Griechenland gehen, wo wegen der Grenzschließungen entlang der Balkanroute mittlerweile zehntausende Flüchtlinge festsitzen.
Der irische Regierungschef Enda Kenny hatte zu Gipfelbeginn gesagt, die Türkei habe jüngst »eine weitere Forderungsliste« für die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise vorgelegt. Nach Angaben der »Financial Times« gehört dazu eine schnellere Visa-Liberalisierung für türkische Bürger, die Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses und mehr als die für Flüchtlinge in der Türkei bereits zugesagten drei Milliarden Euro.
Ein Sprecher der türkischen Delegation bestätigte, dass Ankara einen neuen Vorschlag vorgelegt hat. »Wir versuchen einen Weg zu eröffnen, um diesen Prozess zum Erfolg zu bringen«, sagte er. Details wollte er nicht nennen. Der Sprecher bekräftigte Angaben Davutoglus, dass es für die Türkei nicht nur um die Flüchtlingsfrage gehe, sondern auch um die EU-Betrittsverhandlungen.
»Die Choreographie hat sich geändert«, sagte der EU-Vertreter. Nach dem Mittagessen mit Davutoglu wollten die 28 EU-Staats- und Regierungschefs zu einer Arbeitssitzung zusammenkommen und die »neuen Ideen« aus Ankara diskutieren. Diese seien »in allen Aspekten ehrgeiziger«, sagte der EU-Vertreter. »Ich denke, das wird einige Zeit dauern.«
Gestritten wurde am Montag auch über eine Formulierung im Entwurf der Gipfelerklärung, wonach die Balkanroute »nun geschlossen« ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lehnte diese ab. »Das wird umformuliert«, sagte ein Diplomat nach ersten Beratungen zu der Frage. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker setzte sich demnach dafür ein, dass der umstrittene Satz gestrichen wird.
»Diese Route ist jetzt geschlossen«
Wörtlich heißt es im dem vorbereiteten Gipfelpapier, das de Vernehmen nach von allen EU-Botschaftern mitgetragen wurde und der Deutschen Presse-Agentur vorliegt: »Irreguläre Ströme von Migranten entlang der Route des westlichen Balkans enden; diese Route ist jetzt geschlossen.«
Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann, dessen Land Obergrenzen für Flüchtlinge einführte, ging offen auf Gegenkurs zu Merkel: »Ich bin sehr dafür, mit klarer Sprache allen zu sagen: Wir werden alle Routen schließen, die Balkanroute auch.« Er fügte hinzu: »Die Schlepper sollen keine Chance haben.«
Über die Balkan-Staaten erreichen derzeit die meisten Flüchtlinge Westeuropa. Wegen Grenzkontrollen, unter anderem in Mazedonien, passierten zuletzt jedoch weniger Menschen diesen Weg. In Griechenland strandeten Zehntausende Menschen. Die Zahl der Flüchtlinge müsse nicht nur für einige Länder, sondern für alle verringert werden, forderte Merkel. Dazu sei eine »nachhaltige Lösung« gemeinsam mit der Türkei erforderlich.
Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras hatte bereits im Vorfeld des Gipfels an die Solidarität der übrigen EU-Staaten appelliert. »Das ist nicht das Problem eines einzelnen Landes, sondern ein europäisches Problem«, sagte Tsipras am Montag vor dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel. Er forderte erneut, dass Flüchtlinge innerhalb Europas schneller verteilt werden.
Bislang sind nach Angaben der EU-Kommission erst rund 870 von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien auf andere EU-Staaten verteilt worden. In Griechenland befinden sich mittlerweile Zehntausende Migranten, die Situation ist prekär. Ein großer Teil von ihnen hält sich an der griechisch-mazedonischen Grenze nahe des Grenzortes Idomeni auf und hofft auf eine Weiterreise in Richtung Westeuropa. Mazedonien ließ zuletzt kaum noch Flüchtlinge aus Griechenland passieren.
Tsipras fordert schnellere Umverteilung der Flüchtlinge
Seit dem letzten EU-Gipfel im Februar haben immer mehr Länder ihre Grenzen entlang der Balkanroute weitgehend geschlossen. Deshalb konnten in Griechenland ankommende Flüchtlinge nicht mehr weiterreisen, zehntausende stecken dort mittlerweile fest und müssen versorgt werden.
Tsipras bedauerte, dass Beschlüsse des letzten EU-Gipfels Mitte Februar nicht umgesetzt worden seien. »Beschlüsse, die wir nicht umsetzen, sind keine Beschlüsse«, sagte Tsipras. Auch deshalb gebe es nun »eine schwierige Situation«. Er forderte eine Umsetzung der beschlossenen Umverteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten. Diese müsse »bedeutsam beschleunigt« werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) traf am Morgen schon drei Stunden vor Gipfelbeginn zu Vorgesprächen im Ratsgebäude in Brüssel ein. Sie traf zunächst EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Schon am Sonntagabend hatte sie Gespräche mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu geführt. Dieser wollte am Vormittag auch mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) zusammenkommen.
Die EU-Staats- und Regierungschefs kommen am Mittag zunächst mit Davutoglu zusammen, um über den bereits im November mit der Türkei vereinbarten gemeinsamen Aktionsplan in der Flüchtlingskrise zu beraten. Am Nachmittag stellen sie dann ihre bisherige Strategie in der Krise auf den Prüfstand.
Die Zusammenarbeit der Europäischen Union mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage steht nach Einschätzung des CSU-Europapolitikers Manfred Weber »nach wie vor auf wackeligen Beinen«. Zwar sei die Türkei »ein wichtiger Partner, um die Migrationskrise in den Griff zu bekommen«, sagte der Fraktionsvorsitzende der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) dem »Kölner Stadt-Anzeiger« (Montagsausgabe). »Das heißt aber nicht, dass wir uns der Türkei ausliefern und die Augen verschließen dürfen, etwa vor der Verletzung von Menschenrechten oder der Medienfreiheit.«
Mit großer Skepsis blickt der Zentralrat der Muslime in Deutschland auf den EU-Türkei-Gipfel an diesem Montag in Brüssel. »Derzeit macht jeder EU-Staat, was er will«, sagte der Zentralratsvorsitzende Aiman Mazyek der in Düsseldorf erscheinenden »Rheinischen Post« (Montagsausgabe). »Ich bin skeptisch, ob das nach einer Vereinbarung mit der Türkei anders sein wird.« Selbst wenn der Flüchtlingszustrom einstweilen eingedämmt werde, seien die Fluchtursachen noch lange nicht bekämpft.
Menschenrechtskommissar: Mehr Schutz für geflüchtete Frauen und Mädchen
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Knut Fleckenstein, hat die europäischen Staats- und Regierungschefs davor gewarnt, die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu tolerieren. »Es kann keinerlei Gipfel mit der Türkei geben, bei dem über so etwas nicht geredet wird, wenn wir unsere Glaubwürdigkeit nicht verlieren wollen«, sagte der SPD-Politiker vor dem Spitzentreffen an diesem Montag in Brüssel der Deutschen Presse-Agentur. Vereinbarungen mit der Türkei zur Eindämmung der Flüchtlingskrise dürften nicht dazu führen, dass die EU ihre Werte verkaufe.
»Es gibt in der Türkei Menschen, die immer noch Hoffnung auf uns setzen«, sagte Fleckenstein. »Das sind viele - nicht nur Linke, sondern auch Geschäftsleute und bürgerliche Kräfte.«
Vor dem EU-Türkei-Gipfel zur Flüchtlingskrise hat der Menschenrechtskommissar des Europarats mehr Schutz für geflüchtete Frauen und Mädchen gefordert. »Weibliche Migration ist kein neues Phänomen, aber sie nimmt zu, wie auch die Verwundbarkeit weiblicher Flüchtlinge und Migrantinnen durch Menschenhandel, Ausbeutung, Diskriminierung und Missbrauch«, warnte Nils Muižnieks in einem am Montag veröffentlichten Kommentar. Besonders alleinstehende Frauen mit oder ohne Kinder, Schwangere, jugendliche Mädchen und ältere Frauen seien gefährdet.
Erstmals seit Beginn der Flüchtlingskrise in Europa seien mehr Frauen und Kinder unterwegs als erwachsene Männer. »Während 2015 etwa 70 Prozent der Bevölkerungsbewegung Männer waren, stellen Frauen und Kinder nun fast 60 Prozent der Flüchtlinge und anderer Migranten dar, die nach Europa kommen«, sagte Muižnieks. Agenturen/nd
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