Qualifikationsproblem Hauptstadt

Hundert neue Arbeitsplätze ergeben nur 14 weniger Arbeitslose in Berlin

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Berliner Wirtschaft boomt, aber Arbeitslose profitieren nur in sehr geringem Umfang davon. Das liegt vor allem an fehlender Qualifikation.

»Jeder zweite Berliner Arbeitslose hat keinen Berufsabschluss«, sagte Christian Amsinck, Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB), bei der Vorstellung des Jahresberichts 2015. »Konkret konkurrieren 90 000 Arbeitslose um nur 6000 offene Stellen einfacher Art«, sagte er weiter. In Berlin profitiere also nur jeder siebte Beschäftigungslose vom Stellenzuwachs, in Brandenburg aber jeder Zweite. Das liege am hohen Facharbeitergrad in der Mark. Fast 160 000 neu entstandene sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Berlin ließen die Zahl der Menschen ohne Beschäftigung nur um 22 000 sinken. Man sehe beim Verband immerhin einen »Hoffnungsschimmer« für Berlin, da die Zahl der Langzeitarbeitslosen um gut 17 Prozent gesunken sei. Das Umland profitiert besonders vom Berliner Boom, momentan arbeiten 20 Prozent aller Brandenburger in Berlin, bald wird es ein Viertel sein.

»Wir müssen bei der Qualifikation ansetzen«, sagte Amsinck. »Doch leider beobachten wir, dass das in Berlin nicht sehr gut funktioniert.« So steige die Zahl der Jugendlichen, die die Schule ohne jeglichen Abschluss verlassen seit Jahren, »aktuell scheitert hier jeder neunte junge Mensch.« Positive Auswirkungen erhofft man sich von den neuen Jugendberufsagenturen. Sie sind zentrale Anlaufpunkte, an denen Jobcenter, Arbeitsagentur, Jugendamt, berufliche Schulen und freie Träger Hand in Hand zusammenarbeiten. Im Oktober 2015 öffneten sie in vier Bezirken ihre Pforten, bis Jahresende sollen die restlichen acht Bezirke folgen.

Qualifikation wird auch die Schlüsselaufgabe bei der beruflichen Integration von Flüchtlingen sein. Bei den UVB rechnet man mit etwa 25 000 Geflüchteten in Berlin und rund 10 000 in Brandenburg, die dieses Jahr auf den Arbeitsmarkt kommen. Angesichts eines vom Verband allein für Berlin prognostizierten Zuwachses von 41 000 Stellen 2016 numerisch kein großes Problem. »Das wichtigste ist zunächst das Erlernen der deutschen Sprache«, sagte Amsinck. So sei ein Jahr Sprachunterricht nötig, damit Flüchtlinge dem Berufsschulunterricht folgen könnten. Es gibt aber auch Beispiele, bei denen der Start in den Job wesentlich flotter gehen kann. »Im Startup-Bereich kann es mit Englisch und Informationstechnologiekenntnissen schnell klappen«, sagte Amsinck.

Überhaupt, die Startup-Szene, also jene Firmenneugründungen, deren Geschäft sich ums Digitale dreht. Die Gründer bezeichneten Berlin schon als »Ökosystem«, im Schnitt werde alle 20 Stunden ein neues Unternehmen aus der Taufe gehoben, heißt es euphorisch beim Verband. »Die Digitalisierung treibt uns enorm um«, sagte Amsinck, »schließlich ändert sie auch viel an der Arbeitsorganisation«. Dringenden Reorganisierungsbedarf sieht man bei der Verwaltung. In der nächsten Legislaturperiode müsste das dringend angegangen werden.

Nach jahrelanger Untätigkeit hat auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller diesen Schritt für die Zeit nach der Wahl angekündigt. »Unser Problem ist der einheitliche Standard für alle zwölf Bezirke«, sagte er einer Wahlveranstaltung am Freitag. Das werde nur mit Verabredungen direkt zum Anfang der Legislaturperiode zu schaffen sein.

Die UVB fordern schnellere und auch parallele Verfahren der einzelnen Behörden für Flüchtlinge. Denn obwohl man bereits mehrere hundert Praktikumsplätze mit Mitgliedsunternehmen vereinbart worden seien, konnten gerade mal 25, unter anderem bei Siemens und dem Pankower ABB-Trainingscenter besetzen. Dass Interesse seitens der Flüchtlinge da ist, zeigte die hauseigene Ausbildungsmesse Ende Februar. Statt der 200 erwarteten Interessenten kamen 800.

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