EU-Türkei-Gipfel: Flüchtlingsaufnahme soll freiwillig sein

EU-Parlamentspräsident Schulz kritisiert »harte Haltung« vieler Staaten / Berichte über erste Einigung der EU-Regierungschefs mit der Türkei / Menschenrechtsorganisationen wrnen vor Abkommen mit Türkei

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Erneut soll auf einem EU-Gipfel mit der Türkei verhandelt werden. Vorab tauchte ein erster Einigungsentwurf auf, der die Aufnahme syrischer Flüchtlinge für die EU-Mitgliedstaaten als vollständig freiwillig deklariert.

Berlin. Die Diskussionen um den EU-Gipfel mit der Türkei halten weiter an. Während EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker optimistisch auf das Treffen blickte, werden auch die kritischen Stimmen immer lauter, die hinter dem Abkommen nur den Versuch sehen, Europa weiter abzuschotten und das auf Kosten von Menschenrechten, die in der Türkei regelmäßig missachtet werden.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat zu Beginn des Treffensdie unnachgiebige Haltung vieler EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage kritisiert. Rund 20 Staaten verweigerten derzeit die Aufnahme von Flüchtlingen, sagte Schulz am Donnerstag beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel. »Und in Idomeni sitzen die Menschen im Dreck«, sagte er mit Blick auf die verzweifelte Lage Tausender Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze.

Er hoffe, dass es mit der Türkei zu einer Abmachung komme, sagte Schulz. »Denn die Türkei ist wenigstens ein Land, das sich in diesen Fragen bewegt und mit uns diskutiert. Es gibt hier Länder, die bewegen sich überhaupt nicht.«

»Spiegel Online« berichtete am Donnerstagnachmittag, ein erster echter Entwurf einer Einigung zwischen den EU-Staats- und Regierungschefs mit der Türkei sei fertig und liege zudem der Redaktion vor. Das Acht-Punkte-Papier halte fest, dass die Aufnahme syrischer Flüchtlinge für die EU-Mitgliedstaaten vollständig freiwillig sein soll.

Demnach werden zunächst 18.000 syrische Flüchtlinge in der EU verteilt. Dafür wird ein seit Juli 2015 bestehender Beschluss der EU zur Umsiedlung herangezogen. Dazu kommen weitere 54.000 Flüchtlinge aus einem weiteren, bislang ebenfalls erfolglosen Umsiedlungsprogramm, das die EU im September 2015 durchgesetzt hatte. Der entscheidende Unterschied zum damaligen Beschluss bestehe darin, dass auch diese 54.000 Flüchtlinge nur in Mitgliedsländer verteilt werden sollen, die freiwillig zu der Aufnahme der Menschen bereit sind.

Der zweitägige EU-Gipfel beginnt am Donnerstagnachmittag. Die Türkei hatte der EU vergangene Woche angeboten, alle neu auf den griechischen Inseln ankommende Flüchtlinge zurückzunehmen. Im Gegenzug soll die EU für jeden so abgeschobenen Syrer einen anderen syrischen Flüchtling aus der Türkei legal aufnehmen.

Ziel sei es, das Geschäftsmodell krimineller Schleuser zu zerstören und die Einwanderung auf illegalen Wegen nach Europa zu stoppen. Ankara verlangt als Gegenleistung unter anderem beschleunigte Beitrittsverhandlungen. EU-Kommissionspräsident Juncker äußerte sich skeptisch zu den Aussichten für die Türkei, EU-Mitglied zu werden. »Momentan ist die Türkei nicht beitrittsreif. Und ich glaube, das wird sie auch in zehn Jahren noch nicht sein«, sagte er.

Menschenrechtsorganisationen wie »Save the Children Deutschland« warnen vor dem Abkommen: »40 Prozent der Menschen, die es im Februar bis nach Griechenland geschafft haben, sind Kinder. Seit Anfang des Jahres sind fast zwei Kinder täglich bei der Überfahrt auf dem Mittelmeer zu Tode gekommen. Die fehlende europäische Lösung für die derzeitigen Migrationsbewegungen geht auf Kosten von Kindern, die an den Grenzen Europas stranden.« Europa müsse jetzt eine führende Rolle in der Wahrung der Menschenrechte übernehmen, denn sie seien die Grundfeste der europäischen Idee. Menschen, nicht Grenzen, müssten geschützt werden.

Reporter ohne Grenzen fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, beim EU-Gipfel heute und morgen ihr Schweigen zu den jüngsten Verletzungen der Pressefreiheit in der Türkei zu beenden:

»Die Bundeskanzlerin muss endlich öffentlich Stellung beziehen zu den immer dreisteren Angriffen der Türkei auf unabhängige Medien und kritische Journalisten«, sagt Geschäftsführer Christian Mihr. Wer zu so schwere Verletzungen der Pressefreiheit schweige, leiste letztlich willkürlichen Prozessen gegen Journalisten und Zwangsmaßnahmen gegen kritische Medien Vorschub.

Auch der monatelange interne Streit der Union um den Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland schwelt weiter. Ein Treffen der Unionsspitze um Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und CSU-Chef Horst Seehofer wies kurz vor dem EU-Gipfel offensichtlich erneut keinen Ausweg aus der Auseinandersetzung um die Flüchtlingskrise. Nach einer fast dreieinhalbstündigen Unterredung im Kanzleramt in Berlin hieß es am frühen Donnerstagmorgen lediglich, es gebe noch viel Arbeit bis zu einer Lösung. Details wurden nicht bekannt.

Im einem Interview der »Passauer Neuen Presse« sagte Seehofer, es gebe im Verhältnis der beiden Unionsparteien eine sehr belastete Situation, »die ich nicht will, die aber leider Gottes eingetreten ist«. Trotz heftiger Kritik am Kurs der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik erteilte er einer bundesweiten Ausweitung der CSU eine Absage. Es sei weiterhin »richtig, wenn wir uns nicht bundesweit ausdehnen, sondern stattdessen in die CDU hineinwirken«, sagte der bayerische Ministerpräsident der »Passauer Neuen Presse«. »Das bleibt unsere Strategie. Aber niemand kann Ewigkeitsgarantien abgeben.«

SPD-Generalsekretärin Katarina Barley erwartet vom EU-Flüchtlingsgipfel belastbare Vereinbarungen mit der Türkei. »Europa darf sich angesichts der dramatischen Situation in Idomeni keine weitere Handlungsunfähigkeit leisten«, sagte Barley der Deutschen Presse-Agentur. Finde die EU in der Flüchtlingskrise keine gemeinsame Linie, »dann steht nicht weniger als der Zusammenhalt Europas auf dem Spiel«.

Beim am Donnerstag beginnenden zweitägigen Gipfel in Brüssel seien Verantwortung und Kompromissbereitschaft gefragt. Die SPD stützt dabei die Verhandlungslinie von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und lehnt Grenzschließungen strikt ab: »Nationale Alleingänge lösen keine Probleme. Das zeigt die katastrophale Lage in Griechenland«, meinte Barley. Sie forderte den Koalitionspartner CSU auf, sich endlich hinter Merkel zu stellen.

Die CSU handele unverantwortlich, wenn sie jetzt ein weiteres Mal der Kanzlerin etwa bei der Frage nach möglichen Visaerleichterungen für Türken in den Rücken falle. »Mit einem solchen Verhalten hintertreibt die CSU das deutsche Interesse an einer europäischen Lösung.« Merkel trage die große Verantwortung, gute Lösungen im Interesse Deutschlands und Europas auf dem Gipfel zu verhandeln. »Dafür braucht sie Rückendeckung.« Agenturen/nd

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