Wie Hollywood den Arbeiter fraß

Im Kino wird vor allem einer gerne geopfert: der ehrliche Malocher

  • Wolfgang M. Schmitt
  • Lesedauer: 6 Min.

Karl Valentins bekanntes Bonmot »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit« gilt in besonderer Weise für den Film. Bis auf die Architektur ist der Arbeitsaufwand in keiner Kunst so hoch wie beim Film. Speziell in Hollywoodproduktionen, um die es hier gehen soll. Doch so hoch der Aufwand auch sein mag, die Arbeiter hinter den Filmkulissen bleiben unsichtbar. Dass sie oft nur spärlich entlohnt werden, interessiert kaum einen Zuschauer. Es zählt allein das Endprodukt. Diese Marginalisierung der Arbeit findet ihren Ausdruck auch in den Filmen selbst, die dem Philosophen und Filmkritiker Siegfried Kracauer zufolge stets ein »Spiegel der bestehenden Gesellschaft sind«. Nicht nur die Arbeit als solche, auch die Arbeiter und kleinen Angestellten sind in Hollywoodfilmen entweder weitgehend unsichtbar, werden durch Aufstieg - vom Tellerwäscher zum Millionär - oder Heirat - nach dem Pretty-Woman-Prinzip - aus ihrer Situation »erlöst« oder zum Verschwinden gebracht.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet der Film, der die Blockbusterindustrie mit ins Leben rief, dieser Logik folgt: Steven Spielbergs »Der weiße Hai« spielt in dem kleinen vom Tourismus lebenden (fiktiven) Küstenstädtchen Amity, dessen Bürgermeister die tödlichen Angriffe des Hais zunächst kleinredet und vor der Presse verschweigen will, um das lukrative Geschäft in der gerade beginnenden Sommersaison nicht zu gefährden. Es wird ein paar Menschenleben kosten, ehe der Bürgermeister bereit ist, den Strand zu sperren, bis der Hai gefangen ist. Drei Figuren werden mit dieser Aufgabe betraut: der Polizeichef Brody, ein typischer Vertreter des Mittelstands, der Meeresbiologe Hooper, der aus einer reichen Familie stammt, und der Haifänger Quint, dessen handfeste Körperlichkeit ihn auch physiognomisch als Arbeiter ausweisen soll. Ein Mittelständler, ein Großbürger und ein Arbeiter sitzen zusammen in einem Boot.

Bezeichnend ist, dass die Bürgerschaft der Stadt zunächst nicht bereit ist, den vom Haifänger geforderten Lohn zu zahlen. Erst nach weiteren Haiangriffen stimmt man den Lohnbedingungen zu. Spielberg inszeniert gekonnt den Kontrast zwischen den Vertretern der einzelnen Klassen, die aber bei steigender Gefahr in finsterer Nacht dicht zusammenrücken, sodass das für Spielberg-Filme typische Märchen der Solidarität aller Amerikaner aufblitzen kann. Als der weiße Hai zum finalen Angriff übergeht, verrichten dann auch alle drei Figuren körperliche Arbeit - die Klassenschranken scheinen gefallen. Sogar der reiche Intellektuelle Hooper lässt sich, eingesperrt in einem Käfig, ins Meer absenken, um dem Haifisch eine giftige Injektion zu verabreichen. Und es ist Brody, der in letzter Sekunde den Hai tötet. Der Haifänger Quint aber muss zuvor einen dramaturgisch eigentlich sinnlosen Tod sterben.

Warum muss nun ausgerechnet der Vertreter der Arbeiterklasse geopfert werden? Entlohnen muss man ihn so jedenfalls nicht mehr. Gerade weil filmische Gesetze hier nicht greifen, bietet sich eine ideologiekritische Lesart an. Fidel Castro war von Spielbergs Schocker begeistert und sah im weißen Hai den Kapitalismus symbolisiert.

Schaut man sich die gesellschaftliche Struktur des Küstenorts Amity genauer an, dann wirkt der Bürgermeister wie ein Wirtschaftsvertreter, dessen Handeln rein profitorientiert ist. Der Bürgermeister ist ein neuer Typus, der, im Gewand des Politikers, als Diener der Wirtschaft fungiert. Erklärbar wird der Tod des Haifängers, wenn man den Hai als Symbol für den neoliberalen Kapitalismus, um nicht Raubtierkapitalismus zu sagen, begreift, dem etwas geopfert werden muss, damit die Geschäfte weitergehen können.

Spielbergs Film erschien 1974 und damit in einer Phase des Umbruchs. Der Politikwissenschaftler Colin Crouch beschreibt in seiner Studie »Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus«, wie das Konzept der sozialen Marktwirtschaft Anfang der 1970er Jahre erbitterte Gegner bekommt und der Keynesianismus heftigen (Hai-)Attacken ausgesetzt ist. Spielbergs Film läutet gewissermaßen eine neue Ära ein. Die Wirtschaftspolitik setzt nun auf Deregulierung, tut Vollbeschäftigung als utopisches Projekt ab und beschneidet die Rechte des Arbeiters. Quint stirbt stellvertretend den Tod der Arbeiterklasse. Die Haiattacke ist im Sinne des Wirtschaftstheoretikers Joseph Schumpeter als »schöpferische Zerstörung« zu verstehen, mit der das System sich erneuert und seinen Gewinn maximiert. Denn dass in Amity der Tourismus nach so viel Heldenmut und Publicity besser denn je florieren wird, kann als sicher gelten.

Auch in James Camerons »Titanic« geht die Arbeiterklasse stellvertretend unter. Der Arbeiter Jack (Leonardo DiCaprio) lernt darin das Upperclass-Girl Rose (Kate Winslet) kennen, das sich in einer Sinnkrise befindet und für ein Abenteuer mit dem Proletariat bereit ist, um daraus dann als erfolgreiche Künstlerin hervorzugehen. Jack, der ebenfalls Künstler werden will, erfüllt hier die Funktion der Muse.

Nachdem Rose für Jack in ihrer Luxuskabine nackt posiert hat und nun der Zeitpunkt gekommen wäre, miteinander zu schlafen, begeben sich beide in die Tiefe des Schiffsrumpfs. Nur im Verborgenen dürfen sich die dritte und erste Klasse vereinigen, in Roses Suite wäre der Sex ein Sakrileg. Immer tiefer steigen Jack und Rose hinab, bis sie im Maschinenraum angelangt sind, wo Rose mit der unheimlichen Schattenseite ihres Luxuslebens konfrontiert wird. Sie sieht hart schuftende, schwitzende Arbeiter. Nach dem Sex steigt Rose Hand in Hand mit Jack hinauf auf das Oberdeck. Damit wird die herrschende Ordnung außer Kraft gesetzt und in eben diesem Moment, in dem Rose und Jack die Klassenschranken kühn ignorieren, rammt das Schiff den Eisberg. Das Schiff muss untergehen, um die alte Ordnung wiederherzustellen. Besonders in der Szene am Ende auf der schwimmenden Holztür wird dies deutlich. Nur Rose steht dieses rettende Floß zu, Jack muss im Eiswasser bleiben. Der Arbeiter ist hier Opfer in zweifacher Hinsicht: Er opfert sich als Muse für Roses Karriere - sie wird später eine erfolgreiche Künstlerin - und er ist das Opfer brutaler Klassenschranken, die durch den tödlichen Eisberg symbolisiert und damit naturalisiert werden.

Besonders perfide ist, dass die Opferung des Arbeiters mit der Emanzipation der Frau verquickt wird. Auch ein aktuelles Beispiel verfährt so: In David O. Russells »Joy - Alles außer gewöhnlich« entwickelt die Titelfigur einen effizienten Wischmopp, den sie via Teleshopping an Hausfrauen verkauft und diesen dabei einredet, dass sie dank des neuen Mopps ein glücklicheres Leben führen werden. Die Verkaufszahlen schnellen in die Höhe, doch die Mopps werden von Latino-Einwanderern produziert, die im Film nur kurz zu sehen sind, aber stumm bleiben müssen. So emanzipatorisch sich der Film auch gibt, so sehr widerspricht er doch einem Prinzip der Gleichheit. »Außer gewöhnlich« ist die alleinerziehende, aus prekären Verhältnissen stammende Mutter Joy, doch erfolgreich ist sie nur, weil ihre Produkte von »gewöhnlichen« Arbeiterinnen für »gewöhnliche« Hausfrauen produziert werden.

Siegfried Kracauer schrieb in seinem berühmten Aufsatz »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino« über solche Aufstiegsgeschichten: »Die Rettung einzelner Personen verhindert auf glückliche Weise die der ganzen Klasse und ein in den Salon beförderter Prolet gewährleistet die Fortdauer vieler Kaschemmen.«

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