Inhalte statt Zeitgeist

50 Jahre »Blätter« - Etiketten wie radikaldemokratisch oder pluralistisch stimmen zwar, reichen aber nicht aus

Vor zehn Jahren sah es düster aus: »Nach einem Jubelfest ist uns weder beim Blick auf die "Blätter" noch auf die Entwicklung "draußen im Lande" zumute. Die Zeit ist nicht danach. Vielleicht können wir gemeinsam dazu beitragen, dass es 2006 wirklich etwas zu feiern gibt.« Mit diesen Worten wandte sich die Redaktion der »Blätter für deutsche und internationale Politik«, kurz die »Blätter«, damals an ihre Leser.
Mit dem heutigen Tag gibt es die Blätter seit 50 Jahren und für die Redaktion ist das diesmal durchaus ein Grund zu feiern - nicht unbedingt angesichts der Lage »draußen im Lande«, aber wegen der stabilen wirtschaftlichen Situation und dem anhaltenden Interesse an ihrer Zeitschrift. Die drei hauptamtlichen Redakteure, zwei Männer und eine Frau, produzieren allmonatlich in der Berliner Torstraße das Heft mit dem beige-grauen Kartoneinband.
»Bei uns geht es um Themen, die woanders zu kurz kommen«, beschreibt Albert Scharenberg, einer der Redakteure, den Charakter der Blätter. Im Heft ist Platz für tiefgründige Analysen, aktuelle Kommentare und brisante Dokumentationen. Von der »Politik des Papstes«, der deutschen Wirtschaftspolitik und den Folgen der Treuhand bis hin zur Opiumlandwirtschaft in Afghanistan und der »Generation attac« - das Spektrum der Themen ist wahrlich groß.
Der Pluralismus des Blattes drückt sich neben der inhaltlichen Bandbreite in der Autorenschaft aus. Die reicht von Aktivisten aus den sozialen Bewegungen über linke Hochschullehrer bis hin zu sozialdemokratischen Parteipolitikern. Als problematisch wird es auch in der Redaktion selbst empfunden, dass 80 Prozent der Beiträge von Männern geschrieben werden. Diese Geschlechterungleichheit sei aber auch den Verhältnissen an den Universitäten geschuldet, aus denen viele Autoren dieser doch auch akademischen Publikation stammen.
Eher eine Ausnahme ist es, wenn sich rechtskonservative Personen, wie der »Kulturkämpfer« Samuel Huntington, in den Blättern äußern können. »Vertritt jemand eine diskussionswürdige Position, bekommt sie Platz, auch wenn sie nicht mit unserer Meinung übereinstimmt«, sagt Albrecht von Lucke, der zweite im Redaktionsbund. »Ich muss nicht jeden Artikel unterschreiben können.«
Zusammen mit Annett Mängel, die auch die Geschäfte führt, arbeiten Scharenberg und von Lucke erst seit dem Umzug vor drei Jahren von Bonn an die Spree fest an dem Blatt mit. Die Neubesetzung fand damals statt, weil es eine »generationelle Abnutzung« gegeben habe, so von Lucke.
Die Blätter wurden seitdem vor allem optisch etwas aufgemöbelt, blieben ihrem Stil aber treu: Keine Illustrationen, reine Bleiwüsten erwarten den Leser; zwischen den Heftdeckeln ist kaum ein Unterschied zu der ersten Ausgabe zu erkennen. Manchmal wünscht man sich etwas weniger kryptische Überschriften und voranstehende Zusammenfassungen, um sich schneller orientieren zu können. Aber zum eiligen Überfliegen werden die Blätter eben nicht gemacht. Der Look ist eine klare Ablehnung jeglichen Zeitgeistes und ein deutliches Statement dafür, worum es geht: Inhalte. Die Blätter wollen aufklären, eingreifen in politische Debatten innerhalb der Linken und der Bundesrepublik.
Ohne diesen Anspruch würde es sie wohl gar nicht geben. Karl von Westphalen schrieb im Editorial der ersten Ausgabe, man wolle an der »Lösung der großen Menschheitsfragen« tätig mitwirken. Atomzeitalter, Ost-West-Verständigung, Wiederbewaffnung der Bundesrepublik waren die bestimmenden Themen, die den Kreis aus konservativen Christen und Kommunisten im Gründungsjahr 1956 umtrieben. Aus dieser Zeit stammt auch die Beurteilung, eine »Insel der Vernunft« zu sein.
Das waren sie allerdings nicht immer: Entgegen des ursprünglichen Anspruchs, keiner Partei-Ideologie zu verfallen, ging die Dogmatisierung von Teilen der außerparlamentarischen Opposition in den 70er Jahren auch an den Blättern nicht spurlos vorüber.
Sie galten mal als »Zentralorgan der APO« (»Bayernkurier«), eine andere Zeitung schrieb später, hier werde die »Logistik der Friedensbewegung bereitgestellt«. Letzterer sieht man sich auch heute noch verbunden, aber die Redakteure reagieren sensibel auf jegliche politische Indienstnahme und wahren einen gewissen Abstand. »Wir sind kein Bewegungsorgan«, sagt Scharenberg, »wir sind als Redaktion nicht drin, das mag in den 80ern noch anders gewesen sein.«
Auf den Fluren der Redaktionsräume ist derzeit kaum Durchkommen. Es stapeln sich Päckchen mit den zahlreichen Bestellungen des neuen Globalisierungsreaders. 27 Artikel aus den letzten zwei Jahren der Blätter beleuchten das Thema eingehend. Die Nachfrage ist so groß, dass schon eine zweite Ausgabe gedruckt werden muss. Ein Bild dafür, dass die Blätter derzeit auf soliden Füßen stehen und wahrgenommen werden. Aber auch für den »Nutzwert«, den die Blätter den Redakteuren zufolge haben sollen. Man will den Menschen in den sozialen Bewegungen »Handwerkszeug« liefern.
Mit dem Jahr 1989 mussten sich auch die Blätter auf neue Füße stellen. Der DKP-nahe Pahl-Rugenstein-Verlag, in dem sie bislang erschienen sind, überlebte die Wende nicht. Er war mit Millionenbeträgen durch die DDR-Staatsführung subventioniert worden. Die Redaktion entschied sich damals für den schwierigen Weg, die Zeitschrift in eigener Regie zu produzieren, unabhängig von Verlagen, Parteien und Verbänden. Sie konnten neue Herausgeber gewinnen. Mit ihrer Anzahl wuchs zugleich das inhaltliche Spektrum, wahrscheinlich die beste Sicherung gegen politische Verkrustungen. In einem ersten Schub kamen Vertreter der ostdeutschen Bürgerbewegung wie Jens Reich und Friedrich Schorlemmer hinzu. In einem zweiten 1998 folgten bekannte Linksliberale wie Jürgen Habermas, Micha Brumlik und Ingeborg Maus.
Trotz der »Osterweiterung« des Herausgeberkreises sind die Blätter eine Zeitschrift aus dem Westen, die auch vor allem dort gelesen wird. Von den 6500 Abonnenten bei einer Auflage von 8000 kommt nur ein Zehntel aus Sachsen oder Brandenburg. Die Zeitschrift ist dort wenig bekannt und das Geld reicht nicht, um große Werbekampagnen zu starten. »Geteilte Öffentlichkeiten«, meint Albrecht von Lucke, »die ostdeutschen Intellektuellen schauen erstmal, was ist an eigenen Strukturen da.« Ost-West, das ist für die Blätter bis heute auch auf dieser Ebene eine ungelöste Frage.
Die Blätter haben eine lange Geschichte und damit auch Leser, die seit Jahrzehnten dabei sind. Aber auch für viele Studierende ist die Zeitschrift eine wichtige Recherchequelle. Deren Suche wird jetzt leichter. Auf dem Jubiläumsfest am gestrigen Abend wurde die neue Archiv-DVD präsentiert: 50 Jahre des »Forums engagierten Streits«, 600 Ausgaben der Blätter auf einer einzigen Silberscheibe.

Blätter für deutsche und internationale Politik: www.blaetter.de, Tel.: 030/30 88 36 40, Einzelheft 8,50 EUR, im Abo 4,20 EUR.
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