Der kategorische Iterativ

Das »nd« stampft eine neue App aus dem Boden. Ohne Geld und Extra-Kapazitäten. Wie kann das gehen? Einblicke in den Maschinenraum

Die digitale Welt tickt anders als die einer traditionellen Zeitung. Da erstellt man eine Version und verbessert sie laufend. Das Prozesshafte bestimmt auch die Entwicklung unserer neuen App.
Die digitale Welt tickt anders als die einer traditionellen Zeitung. Da erstellt man eine Version und verbessert sie laufend. Das Prozesshafte bestimmt auch die Entwicklung unserer neuen App.

Schon wieder dieses Wort. Iterativ. Es kommt dem IT-Kollegen ganz locker über die Lippen, bei jedem Treffen des Projektteams Digitalisierung mindestens ein-, zweimal. »Das gehen wir iterativ an.«

Für andere, die eher in der Welt der Politik als in der Welt der Einsen und Nullen zu Hause sind, ist es weniger geläufig. Ich schlage nach. »1. Sprachwissenschaft: wiederholend, iterative Aktionsart – Aktionsart, die eine häufige Wiederholung von Vorgängen ausdrückt (z. B. sticheln = immer wieder stechen). 2. Mathematik, EDV: sich schrittweise in wiederholten Rechengängen der exakten Lösung annähernd, iterative Algorithmen, Programme, Lösungsmethoden.« Aha. Verstanden. Annähernd.

Eine gedruckte Zeitung wird bis aufs letzte Leerzeichen fertiggestellt und geht dann an die Druckerei. Nichts mehr zu ändern. Projekt abgeschlossen. Die digitale Welt tickt anders. Da erstellt man eine Version, schaut, was geht, was nicht, verbessert, erstellt die nächste Version usw. Dieses Herantasten und Ausprobieren, das genauso auf Perfektion zielt, aber mit Unvollkommenheit und Zwischenschritten leben kann, dieses Prozesshafte bestimmt nicht nur die Entwicklung unserer neuen App, sondern die gesamte Arbeit der Gruppe, die die digitale Transformation im »nd« voranbringen soll.

Großes Projekt für eine kleine Zeitung

Eine neue App. Die klar strukturiert ist, in der sich unsere Artikel gut lesen lassen, sowohl auf kleinen als auch auf großen Bildschirmen, die die Möglichkeit bietet, die Zeitung offline zu lesen, also auch, wenn gerade keine Internetverbindung besteht, z.B. morgens in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. In dieser App soll das »nd« ab 6. Mai jeden Tag zu lesen sein. Entwickelt wird die neue digitale Ausgabe im eigenen Haus und doch nicht allein, mit wenig Geld, aber umso mehr Engagement. Ein großes Projekt für eine kleine Zeitung.

Und viel kleinteiliger, als man denkt. An einem Abend sitzen Laurens Nienhaus, der an der technischen Seite der App arbeitet, und Max Grambihler, Layouter und schwerpunktmäßig für deren Design zuständig, in unserem Großraumbüro am Franz-Mehring-Platz 1. Vor sich auf dem Schreibtisch haben sie mehrere Smartphones unterschiedlichen Typs und unterschiedlicher Größe, auf dem Schoß ein Tablet, über das Zahlen- und Buchstabenreihen fließen. Links die Kollegin, die »nd.DieWoche« layoutet, rechts die Kollegin, die gerade der neuen Tagesausgabe den letzten Schliff gibt. Ungestörtes Arbeiten sieht jedenfalls anders auf.

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Max und Laurens frickeln an der Datumsanzeige in der Dachzeile der neuen App. Die Stimmung ist leicht genervt. »Kleine Geräte sind unsere Endgegner.« Bei »April« sieht alles gut aus, aber bei längeren Wörtern wie »September« rutscht das Datum aus der Zeile, erst recht, wenn Nutzer*innen später die Schrift auf ihrem Gerät vergrößern. Individuelle Einstellungen – ein großer Vorteil beim digitalen Lesen, aber bis alles funktioniert, auch ein bisschen tricky. Und reden wir lieber nicht über Grafiken und Fußballtabellen, auch so immer wiederkehrende Punkte montags zwischen 12 und 13.30 Uhr, wenn sich die Projektgruppe Digitalisierung trifft.

Die Digital-AG. Das ist ein Kreis aus verschiedenen Gewerken: IT, Herstellung, Redaktion, Marketing und Produktmanagment, die gemeinsam seit etwa acht Monaten an der Entwicklung der neuen App und der neuen digitalen Montagsausgabe arbeiten. Wir kennen unsere Zeitung am besten und haben mittlerweile auch die Kompetenzen (zumindest zum Teil) selbst im Haus. »Aufgrund der immer noch rasanten technischen Entwicklung ist im Digitalen nie ein endgültiger Stand erreicht, sondern die Entwicklung muss permanent weiter verfolgt werden, um nicht in zwei bis drei Jahren mit einer veralteten Software dazustehen«, erklärt Max, der mit der konzeptionellen Entwicklung der App nicht zum ersten Mal an einem Digitalisierungsprojekt im »nd« beteiligt ist. »Wir wollen den Prozess der Herstellung, den wir schon immer für die gedruckte Zeitung mit viel Aufwand im Haus betrieben haben, auch fürs Digitale mehr als in der Vergangenheit selbst in die Hand nehmen.«

Aber ja, ganz ehrlich: Wir machen mit dieser Struktur auch aus der Not eine Tugend. Wir haben keine Extra-Kapazitäten und auch keine Gelder, mit denen wir diese schaffen könnten, sondern die Entwicklung und der Umstieg müssen neben der laufenden Arbeit gemacht werden. Deshalb schreiben Mitglieder der Projektgruppe weiterhin Artikel, layouten die Zeitung, leiten ein Ressort oder die Produktion der Tagesausgabe. Das ist nicht immer ganz einfach. Auch unser Innenpolitik-Redakteur Sebastian Weiermann sieht diese Ambivalenz. Kann ihr aber etwas abgewinnen. »Einen Vorteil hat diese Armut: Beteiligung. Ich kann als NRW-Redakteur in einer Digital-AG mitarbeiten. Ich kriege das Produkt nicht vorgesetzt. Das ist großartig.«

Kooperation mit der »Woz«

Ganz ohne Externe wäre aber auch diese Entwicklung nicht denkbar. Entscheidend dafür, dass wir diese Flucht nach vorn gewagt haben, war die Möglichkeit, mit der Schweizer Wochenzeitung »Woz« zusammenzuarbeiten, die wie wir genossenschaftlich organisiert ist.

»Ohne sie wären wir nicht so weit«, sagt Laurens. »Ursprünglich hatten wir uns bei denen Anfang des Jahres nur nach der Möglichkeit erkundigt, ihre bestehende App zu nutzen, da uns die in unseren Tests ganz gut gefallen hatte«, erzählt Max. »Wir sind dann ins Gespräch gekommen und haben festgestellt, dass auch bei der «Woz» in Bezug auf ihre App Handlungsbedarf besteht und haben uns relativ schnell drauf verständigen können, dass wir uns bei der Entwicklung gegenseitig unterstützen werden.«

Darüber hinaus sind noch andere Partner*innen beteiligt, mit denen wir bereits länger zusammenarbeiten, etwa bei unserem Redaktionssystem oder der Webseite. Und nicht zuletzt erhalten wir auch direkte personelle Unterstützung aus der nd.Genossenschaft: So hat sich auf der letzten Genossenschaftsversammlung ein Mitglied bereit erklärt, einen wichtigen Teil der Programmierung zu übernehmen. Viele weitere Genoss*innen helfen uns beim Testen des jeweiligen Entwicklungsstands mit ihrem Feedback. »Vom Nichts zu etwas, das jetzt kommt, das fühlt sich gut an«, findet auch Kollege Sebastian.

Vom Nichts? Wir haben doch schon eine App. »Aber sie entspricht nicht mehr dem, wie eine moderne Zeitungsapp im Jahr 2024 funktionieren und aussehen sollte«, sagt Max. Bislang war immer die gedruckte Zeitung der Ausgangspunkt, also die einzelnen Seiten 1 bis 16 im klassischen Zeitungslayout. »Es gab in der Branche lange die Annahme, dass die Simulation der gedruckten Zeitung, das Faksimile, nötig wäre, um die Leser*innen mit ins Digitale zu nehmen. In Wirklichkeit macht es das digitale Lesen schwieriger«, so Max. Er hat immer mal wieder von Leser*innen gehört, die es mühsam fanden, auf den Seiten hin- und herzuscrollen, weil sie nicht wussten, dass es auch eine Leseansicht für die Texte abseits des Seitenlayouts gibt. »Das wollen wir jetzt umkehren, um vor allem die Möglichkeiten, die das digitale Format in Bezug auf optimierte Darstellung von Text und Bild und perspektivisch auch von Multimediaformaten bietet, auszuschöpfen.«

Max verfolgt seit langem, wie sich Zeitungsformate international entwickeln, einfach aus politischem Interesse. Besonders gut gefallen ihm die Editionen des britischen »Guardian« und die französische Digitalzeitung »Mediaparte«. »Beide bieten ein Leseerlebnis, das Spaß macht und man hat nicht das Gefühl, dass im Vergleich zur Papierzeitung etwas fehlen würde.«

»Das Montagsding«

Im Unterschied zu Nachrichten-Apps, die einen endlosen Stream anbieten, haben wir uns für ein Produkt entschieden, das für uns immer noch den Kern einer Zeitung ausmacht: eine tagesaktuell kuratierte Auswahl von Beiträgen, Nachrichten, Interviews aus den klassischen Themenbereichen einer Zeitung wie Politik, Sport, Feuilleton, Wirtschaft, Lokal usw. »Und wenn ich diese Ausgabe durchgegangen bin«, so Max, »das eine oder andere gelesen, vielleicht auch manches überblättert habe, fühle ich mich gut über das aktuelle Zeitgeschehen informiert und muss nicht in den Social-Media-Sümpfen endlos weiter scrollen.«

Nicht allen stand das von Anfang so klar vor Augen. Es brauchte einige Iterationen (!). Und so umkreisten wir in der AG erstmal auch sprachlich, was hier genau Gestalt annehmen soll. Mal hieß es neues digitales »nd«, mal digitale Montagsausgabe oder auch nur: das Montagsding. Bis klar war, dass wir den Aufwand natürlich nicht nur für einen Tag in der Woche betreiben. Ganz unabhängig von der Frage, ob diese Tagesausgabe gedruckt wird oder nicht.

Keine Form ohne Inhalt. Von Dienstag bis zum Wochenende ist klar: Da ist all das digital lesbar, was auch gedruckt wird. Für den Montag wollten wir uns aber nochmal etwas Besonderes überlegen. Mehr persönliche Ansprache, mehr inhaltliches Profil. Und so werden die Lesenden in Zukunft begrüßt mit einem Einblick in die Zeitung und einem Ausblick auf die Woche. Neben den Kommentaren der Redakteure wird gleichberechtigt ein Leser*innenbeitrag erscheinen, da unsere Leserbriefe ohnehin oft alternative Kommentare zur Lage der Welt sind. Mehrere Runden hat die Idee gedreht, ob wir eine neue Rubrik mit dem Arbeitstitel »Der konstruktive Beitrag« einführen wollen. Sie soll dem Gefühl von Ohnmacht begegnen, das viele von uns verspüren angesichts der Beschissenheit der Welt. Das hat im »nd« schon immer seinen Platz, aber meist nur in ein, zwei Sätzen nach der Kritik. Hier soll richtig Raum für Alternativen entstehen. Nicht als theoretische Grundsatzabhandlungen, sondern gut lesbar. Wie kann es gerechter, nachhaltiger, friedlicher gehen? Spannend, ja, aber auch herausfordernd: Schaffen wir das jede Woche? Wird das an einem Montag überhaupt gelesen? Nun denn, wir tun unser Bestes, damit Sie Lust darauf haben.

Das Datumsproblem kriegen Max und Laurens an diesem Abend nicht mehr gelöst. Es sind ja auch noch vier Wochen Zeit. Noch. Oder auch: nur noch. Der Countdown zählt runter. Macht sich Max, der Layouter, Sorgen um seine Zukunft? Er hatte 1997 seine Ausbildung zum Schriftsetzer begonnen. »Schon damals hieß es, dass in absehbarer Zeit sämtliche Gestaltung automatisiert gemacht wird.« Seither haben sich Prozesse verändert, aber überflüssig wurden Layouter wie er nicht. »Sicher kann man nicht mehr drauf setzen, bis zur Rente das Layout einer gedruckten Zeitung zu erstellen, aber die Digitalisierung hat für Grafiker*innen eher mehr Möglichkeiten und Aufgabenbereiche geschaffen, als Arbeitsplätze zu vernichten.« Was für Grafiker gilt, hoffen wir natürlich auch für unsere Zeitung.

Immerhin: Intern ist die Namensfrage inzwischen geklärt. nd.digital für die neue App und »classic App« für das bisherige nd.Epaper. Was doch eine wirklich respektvolle Bezeichnung für das Veraltete ist, ohne das das Neue nicht Gestalt angenommen hätte.

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