Krieg ohne Beispiel

Wer trieb zum »Ritt nach Ostland«?

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor 75 Jahren überzog das Deutsche Reich die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, mit der es kaum zwei Jahre zuvor einen Nichtangriffs- und einen Freundschaftsvertrag geschlossen hatte, mit Krieg. Auf diese Wendung hätten die Deutschen gefasst sein können, zumindest jene, die einen Blick in Hitlers Schrift »Mein Kampf« geworfen und dort gelesen hatten, wo sich ihr »Führer« das deutsche Kolonialreich - nicht nur, aber vor allem - vorstellte.

Die Morgenmeldung des Großdeutschen Rundfunks traf die Masse der Deutschen an jenem 22. Juni 1941 jedoch vollkommen unvorbereitet. Sie hatten während des Frühjahrs zwar gerätselt, wie der »Führer« den Krieg weiter und zum Endsieg treiben werde. Doch rechneten sie eher damit, dass nun die 1940 »nur aufgeschobene« Invasion der britischen Inseln erfolgen werde, nicht aber, dass er eine neue und andere Ostfront als die schon im September 1939 aufgerissene eröffnen werde. Dabei waren vermehrt beunruhigende Nachrichten zu ihnen gelangt, aus den Gebieten vor der Grenze zur Sowjetunion, aus Ostpreußen und dem sogenannten Generalgouvernement: Dort würden sich Truppen der Wehrmacht in großer Zahl sammeln.

Die einzige Gewissheit, die den Deutschen an jenem Junimorgen gewahr wurde, war die Verlängerung des Krieges, dessen Ende die Mehrheit herbeisehnte. Was ihnen nun für ein Krieg bevorstand, ahnten die meisten »Volksgenossen« nicht, die seit Jahren die faschistischen Propagandabilder vom »Bolschewismus« und »bolschewistischen Judentum« eingesogen hatten und die - nach dem sogenannten »Hitler-Stalin-Pakt« 1939 verschwunden - nun aus den Archiven wieder hervorgeholt wurden. Die Deutschen gerieten in einen Krieg ohne geschichtliches Beispiel.

Von denen, für die dieser 22. Juni 1941 zur eigenen Erinnerung gehört, die vordem ahnungslos in der Hitlerjugend und in Schulen die Lieder »Nach Ostland geht unser Ritt« und »In den Ostwind hebt die Fahnen« gelernt und gesungen hatten, leben heute nur noch wenige. Wer 1941 als Soldat dem Befehl »Angriffsziel Moskau« folgte, hat ein Alter erreicht, das früher biblisch genannt wurde. Er ist in sein zehntes Lebensjahrzehnt gelangt. Folglich steht der Tag bevor, an dem die Gruppe dieser Zeitzeugen ganz Geschichte sein wird. Die Nachgeborenen werden auf schriftliche Hinterlassenschaften, Tonaufnahmen, Fotografien und Filme und die Darstellungen von Historikern angewiesen sein.

Und die stummen Zeugen? Die Ruinen des von den Deutschen verursachten Krieges sind hierzulande nahezu vollständig beseitigt, so auch die berühmteste, die der Frauenkirche zu Dresden. Wer wissen will, wie seine Stadt 1945 aussah, muss deren lokales Museum besuchen oder in Bildbänden Fotografien und Zeichnungen betrachten. In öffentlichen Räumen gibt es da und dort noch steinerne Hinterlassenschaften. Die ältesten haben sich im Westen der Republik, in Resten des viel gerühmten Westwalls, erhalten. In manchen Städten überdauerten Luftschutz- und in Bremen ein U-Boot-Bunker. Und dann sind da noch die Tafeln, Denkmäler und Gedenkstätten, die an Folterstätten und Lager erinnern, in denen Menschen litten, die den Krieg bekämpften, ob als Soldaten der alliierten Armeen oder als deutsche Widerständler. Gräber und Friedhöfe bergen die Leichen der in den Schlachten getöteten sowjetischen und deutschen Soldaten, die bekanntesten liegen in und um Berlin, in Seelow und bei Halbe.

Der Vorgang - das Dahinschmelzen der Erinnerung, die »Alleinherrschaft« der Nachgeborenen - ist nicht neu. Er gehört zur Geschichte der menschlichen Gesellschaft seit eh und je. Und immer wieder wurde gefragt: Bedeutet das Gewinn oder Verlust oder mischt sich in ihm beides? Wer vorschlägt oder verlangt, dass Menschen sich mit Erkenntnisinteresse und nicht nur aus dem Bedürfnis nach bloßer Unterhaltung mit ihrer Geschichte befassen, muss das rechtfertigen. Mit welchem Nutzen also lässt sich die Geschichte des Krieges, der 1941 begann, studieren? Ein Krieg, in den sich das deutsche Volk in vollständiger Verkennung seiner eigenen Interessen führen ließ. In dem es nur verlieren konnte: das eigene Leben, Verwandte und Freunde, Hab und Gut und das Ansehen, das seine Vorfahren als Nation sich einst erwarben. Diese Geschichte gibt ein unvergleichliches Anschauungs- und Studienmaterial für den Erfolg einer Eigenschaft der Herrschenden, die heute meist Manipulation genannt wird und Volksbetrug war.

Der Deutsche Bundestag nahm sich aus Anlass des 70. Jahrestages des Überfalls auf die UdSSR 45 Minuten Zeit für eine Debatte. Die Rede war da von unendlichem Leid, schwer begreifbaren Verbrechen, schrecklichen Ereignissen, einer beispiellosen Serie von Gewalt, von Unrecht, Schrecken, Leid, Vernichtung und Opfern. Es wurde vorgeschlagen, sich endlich der wenigen noch überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen anzunehmen, die in Deutschland ausgebeutet und geschunden worden waren, und die Initiativen zu vermehren, die an den Orten des Massenmordens an die getöteten Juden erinnern sollen. Als Ziele dieses Krieges waren mit Nazivokabeln die Eroberung von »Lebensraum« und die Vernichtung des »Bolschewismus«, genannt worden. Der Krieg sei ein »ideologischer Weltanschauungskrieg« und »ein rassebiologischer Vernichtungskrieg« gewesen, der die »Ziele Hitlers« verfolgt habe. Von Erdöl und Weizen war keine Rede und auch nicht von den deutschen Firmen, die sich rasch im besetzten Territorium etablierten. Kein Redner nahm eine Einordnung des Krieges gegen die UdSSR in das Gesamtgeschehen des Zweiten Weltkrieges und die in ihm verfolgten Ziele der deutschen Machthaber vor. Keiner stellte eine Verbindung von diesem Krieg zum Ersten Weltkrieg und dem Raubfrieden von Brest Litowsk her. Der Begriff »Imperialismus« schien tabuisiert. Gemieden war auch jede Erwähnung des Verhältnisses der Mehrheit des deutsche Volkes zum »Unternehmen Barbarossa«.

Die missbräuchliche Mobilisierung von Völkern gegen ihre eigenen Interessen gehört nicht der Vergangenheit an. Geändert und ungeheuer vermehrt hat sich aber das Instrumentarium, das dafür eingesetzt wird.

Am 11. Mai erscheint von Prof. Dr. Kurt Pätzold »Der Überfall. Der 22. Juni 1941. Ursachen, Pläne und Folgen« (Edition Ost, 256 S., br., 14,99 €).

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