Wer keine Hoffnung hatte, starb schnell

Warum Wöbbelin für Janusz Kahl aus Warschau ein ganz besonderer Ort ist.

  • Elvira Grossert
  • Lesedauer: 5 Min.

Am frühen Nachmittag des ersten Mai wurden wir in Waggons getrieben. Zum Glück ist der Zug nicht abgefahren. Die Lokomotive war kaputt. Am nächsten Tag brachte man uns zurück ins Lager. Ich fand ein Stück Steckrübe und versuchte, es in einer Dose zu kochen. Ich saß gerade mit einem älteren Deutschen am Feuer, da sahen wir die Amerikaner. Die Freude war groß, wir weinten zusammen«, erzählt Janusz Kahl auf Deutsch. Der polnische Akzent ist unüberhörbar.

Am 2. Mai 1945 wurde er im KZ-Außenlager Wöbbelin bei Ludwigslust in Mecklenburg befreit. Wöbbelin ist für den Polen deshalb ein ganz besonderer Ort, den er oft besucht; auch in diesem Jahr will er zu der Gedenkfeier an den Tag der Befreiung dorthin zurückkehren.

Geboren 1927 in Warschau, verlebte Janusz Kahl, in Obhut seiner Eltern eine glückliche Kindheit. Sein Vater Wilhelm war Richter am Obersten Verwaltungsgericht in Polen, seine Mutter Zofia Malerin. »Als am 1. September 1939 das neue Schuljahr beginnen sollte, kamen Hitlers Bomber und das Leben veränderte sich drastisch«, erinnert sich der hochgewachsene, schlanke Mann mit dem weißen Haar. Der offizielle Schulbesuch endete für ihn nach der 6. Klasse. Janusz Kahl lernte im Untergrund weiter. Der polnische Widerstand organisierte, trotz Verbots der deutschen Besatzer, dass Polens Kinder lesen, schreiben und rechnen lernten. Nicht nur in Warschau. Private Wohnstuben und Scheunen wurden in verschiedenen Städten und auf dem Lande zu Schulstuben. Kurz vor Ausbruch des Warschauer Aufstands legte Janusz Kahl sein Abitur ab.

Am 10. August 1944, noch war der Aufstand nicht niedergeschlagen, wurde der damals 17-Jährige zusammen mit den Eltern verhaftet und in das Sammellager Pruszków deportiert. Dort überlebte die Familie mit Hilfe von Janusz Kahls 13 Jahre älterer Schwester Irena. Sie leistete Zwangsarbeit in einem Lager der Deutschen Reichsbahn und konnte ihre Angehörigen mit etwas Brot versorgen. »Ein Glück«, wie Janusz Kahl betont. Kurze Zeit später, nach dem Transport in das KZ Sachsenhausen, sollte er seine Eltern für eine lange, schmerzhafte Zeit aus den Augen verlieren.

Die SS überstellte Janusz Kahl, degradiert zur Nummer 89588, mit 500 weiteren Häftlingen, die während des Warschauer Aufstands inhaftiert worden sind, in das neu errichtete Außenlager des KZ Neuengamme in Alt Garge in Niedersachsen. Die Mutter kam ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Der Vater blieb in Sachsenhausen. Janusz Kahl leistete Schwerstarbeit bei der Errichtung eines Kohlekraftwerkes. Schlechte Ernährung und mangelnde Hygiene verursachten Krankheiten und eine hohe Todesrate. »Ich habe nie den Gedanken zugelassen, dass ich das Lager nicht überleben werde. Wer keine Hoffnung hatte, starb sehr schnell an Unterernährung und Misshandlungen«, sagt Janusz Kahl.

Im Februar 1945 erfolgte die Auflösung des Lagers. Janusz Kahl kam nun in das KZ Neuengamme und einen Monat später mit einem der ersten Transporte, am 23. März 1945, nach Wöbbelin. »Im Transport waren hauptsächlich russische Häftlinge«, erinnert er sich. Sie mussten Holzbaracken errichten. »Ich habe mich als Elektriker gemeldet. Ich dachte, das wäre eine etwas leichtere Arbeit. Aber das stimmte nicht, weil die Elektriker die großen Strommasten tragen mussten. Es wurden immer zehn Leute zum Tragen eines Strommasten eingeteilt. Da ich der Längste war, hatte ich am schwersten zu tragen. Als ich versuchte etwas in die Knie zu gehen, hat das dem Kapo nicht gefallen.« Janusz Kahl lacht schelmisch. »Später beim Verlegen der Leitungen in den Baracken war es einfacher«, fährt der heute 89-Jährige fort. »Ich hatte einen guten Meister, ein Zivilangestellter. Ein junger Mann. Er hat mir geholfen. Als mich beispielsweise ein SS-Mann anbrüllte, stellte er sich schützend vor mich.« Die leichtere Arbeit und ein guter Meister - »ein Glücksumstand«. Janusz Kahl spricht oft von »Glück«.

Am 2. Mai 1945 wurden die Häftlinge befreit. »Wir konnten das KZ Wöbbelin riechen, bevor wir es sehen konnten«, erinnerte sich der kommandierende General der 82. US-Luftlandedivision, James M. Gavin. Das am 12. Februar 1945 als letztes Außenlager des KZ Neuengamme errichtete Lager existierte nur zehn Wochen. Es hatte keine Gaskammern, und trotzdem starben hier zu Kriegsende noch über 1000 Menschen aus 25 Nationen. Es war zunächst als Kriegsgefangenenlager für amerikanische Piloten gedacht. Zwischen dem 15. und 26. April 1945 trafen mehrere Evakuierungstransporte, hauptsächlich aus den Außenlagern von Neuengamme, in Wöbbelin ein. Sie wurden in unfertige Baracken gepfercht. Fenster, Fußböden fehlten. Es gab nur eine Wasserpumpe für etwa 5000 Menschen; die Versorgung mit Nahrung war noch katastrophaler als in den »normalen« Arbeits- oder Konzentrationslagern. Noch am 2. Mai 1945 fahren die US-Soldaten, Angehörigen der 82. US-Luftlandedivision, einige Häftlinge mit Lkw nach Stern Buchholz nahe Schwerin. Die Befreier befürchtetem den Ausbruch von Seuchen durch die vielen Leichen. Der 18-jährige, hochgewachsene Janusz Kahl wog nur noch 43 Kilogramm.

Ende Mai 1945 wurde er aus Stern Buchholz in ein Camp für Displaced Persons (engl.: aus der Heimat vertriebene Personen) gefahren. Bei der Abfahrt lernte er seine spätere Frau Theresa kennen. Die Warschauerin war mit dem Todesmarsch vom Außenkommando Kleinmachnow des KZ Sachsenhausen in Richtung Nordwesten getrieben worden und am 1. Mai in Wöbbelin eingetroffen. »Sie bat mich, ihr Gepäckstück zum Lkw tragen zu helfen«, sagt Janusz Kahl. Er trug nicht nur das Gepäck, sondern er trug auch Theresa auf Händen, berichtet der Veteran mit funkelnden Augen. 1946 heirateten die beiden im DP-Lager Geesthacht.

Gemeinsam machten sich die Liebenden auf den Weg zurück in die Heimat. Die Familie von Janusz Kahl fand sich glücklich in Warschau wieder zusammen. Er studierte an der staatlichen Musikhochschule Łódź Klavier. Doch immer wieder holte ihn die Vergangenheit ein. Seine Hände versagten beim Klavierspielen. Krämpfe im rechten Arm. Schließlich musste er sein Studium unterbrechen. 1952 begann er eine Komponistenausbildung in Warschau. Später war er Korrepetitor am Warschauer Operettentheater; zahlreiche Stücke, die dort aufgeführt wurden, hat er komponiert. Auf die aktuelle politische Situation in Polen angesprochen, wiegt der Zeitzeuge bedächtig mit dem Kopf: »Gar nicht gut. Sie bereitet uns Sorgen.«

Janusz Kahl hat vielen Schülern in seiner Heimat und in Deutschland seine Geschichte erzählt. Und er ist stolz darauf, Ehrenmitglied des Fördervereins der Mahn- und Gedenkstätten Wöbbelin zu sein.

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