Bier, Kaffee, Zigarren - und Musik

Zum 100. Todestag des Komponisten Max Reger

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 6 Min.

Er ist nicht alt geworden und mitten im Ersten Weltkrieg gestorben. Max Reger lebte in den Monaten vor seinem Tod erstmals in einer zurückgezogenen Situation. Sein Gesundheitszustand erlaubte ihm keine Konzertreisen mehr. Am schlimmsten aber: Die Feder will nicht mehr so wie gewohnt arbeiten, rasch, exzessiv, närrisch geführt von Einfall und Handwerk. Eine kurze Zeit des Verzichts auf sein bisheriges Leben als Musiker. Das muss böse geschmerzt haben. In dieser Phase der Isolation steht sein bisheriger Stil zu leben und zu arbeiten in Frage. Etliche Stationen hatte er zuvor durchlaufen: Weiden, Sondershausen, Wiesbaden, München, Meiningen, Leipzig, um dort zu lernen, zu studieren, sich hinaufzuarbeiten zu einem der kühnsten, gescheitesten Komponisten und Musiker in Deutschland.

Wie modern ist Max Reger? Wie lebendig sein Werk? Der deutsche Betrieb behandelt ihn nach wie vor eher stiefmütterlich. Das ist schade. Denn die Qualitäten vieler seiner Stücke sind immens. Reger scheint immer noch verkannt, obwohl zu seinem 100. Todestag in diesem Jahr etliche hoch qualifizierte CD-Einspielungen auf den Markt gekommen sind und auch manches in Konzertplänen zu Buche steht, das aufzuführen sich lohnt. Allerdings reicht das kaum, seiner tatsächlichen Meisterschaft zu genügen.

Wenn man Max Regers betrachtet, fallen einem die teils extremen Widersprüche auf. Sie liegen in der Musik so sehr wie in der Person des Komponisten. Reger verschrieb sich lebenslang geradezu exzessiv der Musik und zugleich war er sich seiner selbst als Pianist und Komponist nie ganz sicher. Jene Differenz zwischen Sein und Seinmüssen zu schließen, könne nur durch zähes Arbeiten geschehen. Und da das Arbeitstier in ihm nie daran gezweifelt hat, kannte seine Produktion auch kein Halten. Reger schrieb um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert Musikgeschichte. Alle seinerzeitigen Gattungen hat er bedient, die Orchester- und Kammermusik, alle Arten der Klaviermusik, die Bühnen - und Ballettmusik (keine Oper), die Chormusik sosehr wie etwa die Orgelfantasie nach Modellen von J. S. Bach, in dessen polyphonen, kontrapunktischen Spuren er ähnlich wie Ferruccio Busoni gewandelt ist.

In Arnold Schönbergs »Verein für musikalische Privataufführungen« gehörte Reger dereinst zu den meist aufgeführten Komponisten der Kammermusik. Der Musikhistoriker Gerd Rienäcker sagt: »Kammermusik ist vermutlich das Gescheiteste, was Reger komponiert hat«. In Schönberg habe er »einen Bruder auf dem Wege der Auflösung der Tonalität und einen Bruder in der Auflösung der großen Besetzung« gesehen. »Das Ideal der Kammersymphonie fand er auch bei Reger verwirklicht, etwa im ›Konzert im Alten Stil‹.« Reger selbst sah sich eher als Gesinnungsgenosse Schönbergs denn als einer, der dessen totale Atonalität verstand, geschweige sich als Komponist berufen sah, Schönberg nachzueifern. Erschreckend demgegenüber, wie wenig bekannt Reger unter lebenden Komponisten ist.

Regers Biografie verschattet eine Schwäche, die während der Tage, als sie ruchbar wurde, keineswegs als solche gesehen wurde. Der Erste Weltkrieg zerriss nicht nur Leiber, er schnitt die Hirne quer durch. Und das komponierende, Johann Sebastian Bach abgöttisch verehrende und adaptierende Genie war voll davon betroffen. Regers erste Reflexion des Krieges bedeutet einen Tiefstand in seinem Leben. So traurig der Umstand ist, so wenig tastet er - das muss klar sein - die volle Größe des Künstlers an. Aber der Fall der Verblendung Regers ist aktuell, er befällt heutige Bürger immer mehr.

Als zum Gefecht gerufen wurde, stimmte Reger mit seiner »Vaterländischen Ouvertüre« für Orchester (die Fassung für Klavier zu 4 Händen ist nicht minder schlimm anzuhören) volltönig in die Kriegseuphorie ein. Die Eröffnung, »Dem deutschen Heere!« gewidmet, streckt noch die lieblichen Waffen vor. Alsdann windet das Werk, als würde es den Marschtritt nach Westen begleiten, völkische Lieder zum Kranze, darin verwoben »Deutschland, Deutschland, über alles«, »Nun danket alle Gott« etc.

Andererseits: Kunst spricht ihre eigene Sprache. Sie sagt Wahrheiten im selben Moment, wie ihr Autor verbal lügt. Sein apokalyptisches Dies-Irae-Fragment für großes Orchester und Chor hat Reger 1914 vorsichtshalber der Schublade überantwortet. Die Totenmusik nahm den Wahnwitz des Krieges gleichsam vorweg, und darum brauchte sie niemand. Dass sie komponiert wurde, ehrt den Komponisten indes ungeheuer.

Anfangs war für den noch antichauvinistischen Reger, der im August 1914, fast genau zu Beginn des Krieges, einen »Hymnus der Liebe« innigsten, lautersten Charakters zu Ende führte, der Krieg ein Kampf für die gerechte Sache, an deren unbedingten Sieg er glaubte. Dass der 41-Jährige bei der Musterung des Landsturms nach Hause geschickt wurde, bedrückte ihn. Dann wurde er ein elender Chauvinist, das heißt, er plapperte nach, was die Presse täglich in die nationalen Köpfe hineindrosch. In einem Kondolenzbrief an Karl Straube, Thomaskantor, Organist, dessen einer Schüler im Felde gefallen war, schreibt er am 12. Oktober 1914: »Er hat auch seinen Teil dazu beigetragen, dass das Deutschtum eines Bach, Goethe, Beethoven nicht von asiatischem Russengesindel, belgischen und französischen größenwahnsinnigen Prahlhälsen und englischen elenden Krämerseelen vernichtet wird - ihm wird Ehre im höchsten Sinne des Wortes beschieden sein für immer! Er hat sein Leben hingegeben für andere, für das Deutschtum, für das höchste also, was die Erde aufzuweisen hat.«

Was war in diesen Reger bloß gefahren? Als dann die »Urkatastrophe« offen ausbrach, schrieb er die »Geistlichen Gesänge« op. 138 für vier- bis achtstimmigen Chor, schlichte, auf alle verwickelte Kontrapunktik verzichtende Sätze, einfach und klar in Diktion und Ausdruck. Der 1. Gesang ist choralförmig komponiert auf ein Gedicht von Matthias Claudius: »Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit.« Wer solche Musik erdenkt, ist der kriegerisch? Reger: »Das Schaffen muss vollständig frei sein - jede Fessel, die man sich in Rücksicht auf Spielbarkeit, Geschmack des Publikums auferlegt, führt zum Unheil.« Welch Glück, frei waren die geistlichen Chöre auch gegen die anschwellende Kriegsrealität. Schon 1915, vermittelt über Aussagen an der Front verwundeter Schüler, sieht der Komponist diese Realität anders. »Hoffentlich kriegen wir endlich bald Frieden, wonach sich alle Völker der Erde so sehnen. Wer diesen entsetzlichen Krieg entfesselt hat, der hat für alle Zeiten den grässlichen Fluch der Menschheit auf sich geladen.«

Reger, geboren am 19. März 1873 in Brand (Oberpfalz), war nicht nur der Fülle der Musik ergebener Komponist, Pianist und Organist. Er war auch ein enorm starker Esser. Er trank ungeheuer viel Bier, Kaffee, Tee. Sein Blutdruck war immens hoch. Er rauchte wie ein Berserker, manchmal 50 schwere Brasilzigarren an zwei Tagen. Er starb am 11. Mai 1916 in Leipzig. Nicht der Heldentod, ein Herzmuskelinfarkt raffte ihn hinweg.

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