Merkel spricht mit Erdogan über Flüchtlingspakt

Kanzlerin beim UN-Nothilfegipfel in Istanbul / Am Nachmittag trifft sie sich mit türkischem Präsidenten / Deutsche Regierungschefin kündigte an, »über alle wichtigen Themen« sprechen zu wollen

  • Lesedauer: 3 Min.
Kritiker erwarten von der Bundeskanzlerin klare Worte im Gespräch mit dem autoritär regierenden türkischen Präsidenten Erdogan. Merkel kündigt ein offenes Wort an - will aber ein Scheitern des Flüchtlingspakts verhindern.

Istanbul. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) berät sich an diesem Montag mit zahlreichen Staats- und Regierungschefs über eine bessere Koordinierung der internationalen humanitären Hilfe. Das Treffen beim ersten UN-Nothilfegipfel in der türkischen Metropole Istanbul findet hinter verschlossenen Türen statt.

Bereits zu Beginn gab es Irritationen über den Ablauf. Die Organisation hatte am Tag zuvor kurzfristig die eigentlich geplante offizielle Begrüßung durch UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan nach Angaben aus Gipfelkreisen abgesagt.

Merkel und Erdogan: Die möglichen Konfliktpunkte

Anlass von Merkels Reise ist der erste UN-Nothilfegipfel in Istanbul, der am Montagmorgen beginnt. Das Augenmerk liegt aber auf ihrem Treffen mit Erdogan am Nachmittag.

Flüchtlingspakt:

Erdogan hat indirekt gedroht, den Flüchtlingspakt zu kippen. Hintergrund ist eine EU-Forderung, die Anti-Terror-Gesetze der Türkei zu reformieren, damit sie nicht politisch missbraucht werden. Ohne Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben. Merkel will wissen, wie Erdogan zu dem Thema steht.

Parlament:

Auf Betreiben Erdogans hat das Parlament beschlossen, Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die linke Oppositionspartei HDP, der Erdogan Terrorvorwürfe macht. Parlamentariern droht jetzt Strafverfolgung. Merkel hat sich darüber öffentlich sehr besorgt gezeigt - sie dürfte das Thema nicht aussparen.

Pressefreiheit:

Kürzlich wurden zwei kritische Journalisten der Zeitung »Cumhuriyet« zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Andere Medien wurden auf Regierungskurs gezwungen. Erdogan meint dennoch, türkische Medien seien frei. Merkel hat sich schon am Vorabend mit Journalisten getroffen.

Armenier:

Am 2. Juni will der Bundestag eine Resolution beschließen, mit der die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor gut 100 Jahren als »Völkermord« eingestuft werden. Die Türkei lehnt das strikt ab. Unklar ist, ob der Punkt jetzt schon zum Thema wird.

Böhmermann-Affäre:

Am kleinsten dürften die Differenzen noch beim Thema Jan Böhmermann sein. Erdogan hat sich öffentlich nicht über das Schmähgedicht des ZDF-Moderators Jan Böhmermann geäußert, aber dagegen geklagt. Merkel nannte ihre Äußerung, Böhmermanns Gedicht sei »bewusst verletzend«, später einen Fehler. Dennoch gewährte sie die Strafverfolgung Böhmermanns unter Berufung auf den Paragrafen 103 StGB, der die Majestätsbeleidigung unter Strafe stellt. Von sich aus dürfte Merkel diesen Punkt daher nicht ansprechen. dpa/nd

Nach dem Auftakttreffen der Staats- und Regierungschefs ist die offizielle Eröffnungsveranstaltung des Gipfels geplant, bei dem auch Merkel und Erdogan Reden halten werden. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Treffen Merkels mit Erdogan am Nachmittag am Rande des Gipfels. Merkel will bei diesem Gespräch Wege aus dem Streit über den Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei suchen.

Merkel kündigte außerdem an, über »alle wichtigen Fragen« zu reden. Über die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei äußerte sich die Kanzlerin in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« besorgt. Merkel machte aber deutlich, dass sie dennoch auf die Umsetzung des EU-Flüchtlingspaktes mit der Türkei baue. Die Kritik aus der EU an Erdogans zunehmend autoritärer Politik dauert indes an.

Die Bundesregierung geht nach einem Bericht der »Bild«-Zeitung (Montag) nicht mehr davon aus, dass die Visafreiheit für die Türkei zum 1. Juli umgesetzt werden kann. Die Zeitung zitierte unter Berufung auf Regierungskreise, dass Ankara die für die Visafreiheit nötigen Voraussetzungen nicht vor Jahresende erfüllen könne. Ein Grund seien die festgefahrenen Verhandlungen zwischen EU und Türkei über die Umsetzung der Bedingungen für die Visafreiheit.

»Wir erleben, dass die Türkei unter Erdogan auf dem Weg in einen Ein-Mann-Staat ist«, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) dem »Kölner Stadt-Anzeiger« (Montag). »Die Bundeskanzlerin und die EU-Regierungschefs müssen dem türkischen Präsidenten ganz klar sagen, dass seine Politik nicht mit den europäischen Grundwerten vereinbar ist.«

Nach ihrer Ankunft in Istanbul am Sonntagabend beriet sich Merkel ungewöhnlich lange mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft. Bei dem Treffen sei es um die politische und gesellschaftliche Lage, die Kurden, die Entwicklung des Rechtsstaats sowie um die Kooperation in der Flüchtlingspolitik gegangen, hieß es aus Teilnehmerkreisen. Auch die EU-Beitrittsverhandlungen seien Thema gewesen. Das für 60 Minuten angesetzte Gespräch dauerte insgesamt gut zwei Stunden. Agenturen/nd

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