Kein Burgfrieden zur EM in Frankreich

Landesweiter Aktionstag gegen umstrittene Arbeitsgesetze am Dienstag / Schwierige Phase für Gewerkschaften und Bewegung »Nuit debout«

  • Bernard Schmid, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Puh, gerade noch einmal davongekommen! Es ist also in Frankreich doch noch erlaubt, von der Redefreiheit Gebrauch zu machen. Sogar wenn man das geplante »Arbeitsgesetz« ablehnt und selbst in Zeiten von Fußballspielen, die gefälligst die Nation in Atem zu halten haben.

Eine Zeit lang hatte es am Donnerstag und Freitag anders ausgehen: In »Verhaltensregeln« für die Fans, die eine sichere Austragung der Spiele der Europameisterschaft gewährleisten sollten, forderte das französische Innenministerium diese dazu auf, »keine politischen, ideologischen, beleidigenden oder rassistischen Äußerungen« zu tätigen. Auch sollten sie sich lieber »von Menschenansammlungen fernhalten«.

Die CGT reagierte darauf, indem sie per Twitter nachfragte, ob für das Ministerium die Meinungsäußerungsfreiheit denn noch existiere. Ironisch zwitscherte die Pressesprecherin des Innenressorts zurück: »Die Regierung verbietet es, das Wort ›Arbeit‹ im Stadion auszusprechen« oder »rote Farbe zu tragen«. Die Verhaltensregeln wurden am Samstagvormittag stillschweigend abgeändert. Die Episode zeigt zweifellos, welch steriles Verständnis von gesellschaftlichen Konflikten man in dem sozialdemokratisch geführten Ministerium hegt.

Viele Bürger befürchteten, der Beginn der EM werde dazu benutzt, um von oben einen »sozialen Burgfrieden« zu verhängen. Bislang hat dieses Vorhaben jedoch keinen Erfolg.

Nichtsdestotrotz gibt es beim radikaleren Flügel der Protestakteure Sorge, die Gewerkschaftsführungen könnten die Bewegung allmählich ihrem Ende zuführen. Tatsächlich sind Gewerkschaftsvorstände darauf bedacht, mit einem irgendwie vorzeigbaren Ergebnis aus dem Konflikt zu kommen. Und während die CGT von heftigen Debatten durchzogen wird, droht der kleinere Dachverband Force Ouvrière (FO) an ihr vorbeizuziehen. FO-Generalsekretär Jean-Claude Mailly – er ist seit dreißig Jahren Mitglied der französischen Sozialdemokratie – erklärte am Sonntag, er habe am Vortag 75 Minuten lang mit Arbeitsministerin Myriam El Khomri sprechen können und habe sie als »offen« empfunden.

Das eher linksradikale Spektrum bis hin zu den an der Jugend- und Sozialprotestbewegung beteiligten Autonomen sowie Gewerkschaftslinke aus CGT und SUD versammelten sich unterdessen das Wochenende über in der Universität von Nanterre. Dort, nordwestlich von Paris, kamen rund 400 Menschen in einem Hörsaal zusammen und diskutierten teilweise kontrovers über die Rolle der Gewerkschaften. Aus den Städteberichten ergab sich zugleich ein widersprüchliches Bild: In einigen Großstädten wie Lyon und Marseille zeigt die Mobilisierung Ermüdungserscheinungen und geht sichtlich zurück. Andernorts wie in Rouen, wo die anfänglich sehr zähen Debatten in der Platzbesetzerbewegung einer Bündnis- und Aktionsorientierung gewichen sind, befindet sich der Protest in einer aktiven, ja, aufstrebenden Phase. Allgemein abgeebbt ist allerdings die Studierendenbewegung, da die Examensphase sie einholte. Und ab Mittwoch steht für die Oberschüler nun das Abitur auf dem Kalender.

Alle, von aktiven Gewerkschaftern bis zu Autonomen, erhoffen sich deswegen von der frankreichweiten Zentraldemonstration am Dienstag neuen Schwung. In ihrem Gefolge ist laut sozialen Wettermeldungen mit Besetzungen und anderen Niederschlägen zu rechnen. Über Einzelheiten wurde den Sonntagnachmittag über in Kleingruppen diskutiert.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal