Die Presse und der Pranger

Jacob Appelbaum: Anonyme Rufmordkampagnen gehören geächtet

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 5 Min.

Die unmenschliche Praxis, Menschen an den Pranger zu stellen, wurde im Mittelalter noch humaner ausgestaltet als heute: Man brauchte damals immerhin noch ein Gerichtsurteil, und die Schande war auf den Marktplatz des Heimatdorfes beschränkt. Wenn sich jedoch heute anonyme Internet-Akteure mit der Boulevardpresse verzahnen, können sich beide gemeinsam als Ankläger und Richter in einer Person aufspielen - zwei Aufgaben, für die sie von niemandem legitimiert wurden. Ein Urteil kann von ihnen gesprochen und (international) vollstreckt werden, lange bevor sich die Gesellschaft oder gar ein ordentliches Gericht ein eigenes, überprüfbares Bild machen konnte. Selbst wenn schließlich ein solches Gericht die rufmörderischen Vorwürfe entkräftet, kann das den Schaden des Verleumdeten nicht zurücknehmen.

Ein sehr prominentes Opfer dieser anmaßenden medialen Lynchjustiz war Bundespräsident Christian Wulff, ein aktuelles ist der renommierte US-Journalist und Datenschutz-Aktivist Jacob Appelbaum: Auf einer Prangerseite im Internet haben in den vergangenen Wochen angebliche Opfer dem in Berlin lebenden (Ex-)Sprecher des Anti-Überwachungs-Netzwerks TOR sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Die Vorwürfe waren zunächst eher allgemein gehalten und wurden anonym geäußert. Dass sich die TOR-Gemeinde von einer solch undurchsichtigen Kampagne überrumpeln ließ, und sich nicht bis zur Klärung konsequent hinter ihren prominentesten Akteur stellte, ist ein Armutszeugnis. Appelbaum zog sich daraufhin Ende Mai von seinen Aufgaben zurück. Er war bis zu dem Zeitpunkt einer der weltweit profiliertesten Überwachungs-Gegner, der eng mit Wikileaks arbeitet und unter anderem den Skandal um Angela Merkels von den US-Geheimdiensten abgehörtes Handy enthüllte.

Dies ist kein Plädoyer für Appelbaums »Unschuld«, da die mangels Fakten gar nicht beurteilt werden kann. Aber eben wegen dieses Mangels muss der Unschuldsvermutung bis zu einem Urteil unbedingt Geltung verschafft werden. Internetpranger, die als Aufhänger für rufmörderische Medienberichte genutzt werden können, müssen prinzipiell geächtet werden - und seien sie noch so »feministisch« verbrämt. Das sehen mittlerweile auch Netz- und Menschenrechts-Aktivistinnen so, die sich als »Freundinnen, Kolleginnen und Partnerinnen« von Appelbaum bezeichnen. Sie haben unter ourresponse.org einen Offenen Brief gegen die Hetzjagd veröffentlicht: »Wir sprechen uns gegen die koordinierte und einseitige Attacke aus. Es ist offensichtlich, dass die Mainstream-Medien unwillig sind, Fakten zu klären, und statt dessen nicht überprüfbare Gerüchte verbreiten.« Weiter bezeichnen die Unterzeichnerinnen die Kampagne als »Ermordung eines Charakters« und fordern »die Einhaltung moralischer Mindeststandards« von »Aktivisten« und Medien.

Eine »Verteidigung« Appelbaums (bis zur Klärung einer eventuellen Schuld) ist auch keine Respektlosigkeit gegenüber den angeblichen Opfern. Zumal diese gar nicht die Beschwerdeführer sind. Das sind nämlich, soweit bekannt, eher eifrige Denunzianten aus dem Umfeld. Im bisher einzigen über anonyme und schwammige Sexismusvorwürfe hinaus konkretisierten Fall hat die angeblich sexuell Belästigte ebenfalls einen offenen Brief zugunsten Appelbaums geschrieben. Inzwischen stellt sich dieser »Fall« eher so dar: »Zeugen« haben ein zwischenmenschliches Umgehen, das über ihren biederen persönlichen Horizont hinausgeht, beobachtet und grob missinterpretiert. Dadurch fühlten sie sich zum Rufmord nicht nur berechtigt, sondern geradezu berufen - und zwar ohne das »Opfer« zu kontaktieren.

Über die Motivation der bekannten und unbekannten Stimmungsmacher kann man nur spekulieren. Offensichtlich aber ist, dass ihre bisher haltlosen Anschuldigungen von einigen Medien gerne und ungeprüft übernommen und verbreitet wurden, wodurch die Kampagne erst richtig Fahrt aufnahm. Laut »FAZ« spielt bei der Skandalisierung der »Gawker«-Medienkonzern eine zentrale Rolle - jene US-Firma, die sich momentan wegen Verbreitung eines Sexvideos mit existenzbedrohenden Geldforderungen konfrontiert sieht.

Wie auch immer die Geschichte nun weitergeht: Zunächst ist Appelbaum seinen Job los. Er ist bei oberflächlich informierten Bürgern nun weltweit als egomanischer Triebtäter verschrien. An sein Haus wurde »Hier wohnt ein Vergewaltiger« geschmiert. Und auch auf Twitter wurde aus Appelbaums angeblich rüpelhaftem Verhalten schockierend schnell eine eindeutige Vergewaltigung.

Viele Menschen, die sich nun auf der manipulierbaren »sozialen« Schleuder Twitter persönliche Hinrichtungen anmaßen, konnten sich dieses rufmörderische Aburteilen schon bei einigen Medien abgucken: »Es mag ja legal sein, aber ist es auch legitim?« Dieser während der Wulff-Kampagne sehr strapazierte Satz ist der Gipfel der journalistischen Selbstherrlichkeit. Er ist ein Freibrief zur moralisch-emotionalen Meinungsmache. Denn in der Praxis begründen Redakteure mit dieser Floskel ihr »Recht«, je nach Gusto Handlungen und Personen zu skandalisieren. Für sein öffentliches soziales und politisches Todesurteil musste Wulff darum kein Gesetz brechen. Es reichte, dass große Medien neue, moralische Gesetze ausriefen, gegen die er angeblich verstoßen hatte. Mit der nötigen Reichweite und Skrupellosigkeit können so schon einzelne Verlage praktisch gesetzgeberisch tätig werden. Das ist das Gegenteil von Rechtssicherheit. Denn es gibt keine Person auf Erden, bei der sich nicht irgendetwas finden ließe, das sich als »illegitim« darstellen ließe - wahrscheinlich auch keinen Journalisten, weshalb hier noch Heuchelei erschwerend hinzu kommt.

Eindeutige Rechtsverhältnisse, deren Grenzen nicht durch mediale Emotionalisierung und »soziale« Netzwerk-Kampagnen verwischt werden können, haben im Übrigen nichts Spießiges oder gar Reaktionäres an sich. Im Gegenteil: Sie schützen immer die Schwachen, die etwa über keine publizistische Macht verfügen. Denn die allermeisten Bürger können sich ihre eigenen Gesetze nicht herschreiben. Online-Kampagnen entwickeln ihre Kraft fast immer erst durch die Verzahnung mit großen Medienhäusern. Und darum kann »das Netz« auch nur sehr begrenzt mitbestimmen, welche bedauernswerte Person wegen privater »legaler, aber nicht legitimer« Handlungen öffentlich fertig gemacht wird.

Sollte es juristische Lücken geben, müssen die vom demokratisch legitimierten Parlament gesetzgeberisch geschlossen werden. Um auf solche Defizite hinzuweisen, sind (sachliche, nicht persönliche) Online-Kampagnen legitim. Ächten muss man aber (auch wenn es gegen Politiker geht) persönliche Hetzjagden von sendungsbewussten Redakteuren oder anonymen »Bloggern« und »Aktivisten«. Denn die hat kein Mensch beauftragt.

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