Vom Ende eines traurigen Roboters

Künstler Stephane Leonard erarbeitet mit SchülerInnen der Rütli-Schule eine Installation

Erst ist es ganz ruhig. Die sterilen weißen Wände haben nichts zu reflektieren. Dann geht die Tür auf und Gekreische und stimmbrüchige Krakeelerei bricht sich Bahn. Fünf Jugendliche - drei Jungs, zwei Mädchen - stürmen die Temporäre Galerie in der Rütlistraße in Neukölln. Die Straße, deren Name für immer verbunden sein wird mit der »Terrorschule« und dem »Kampf ums Klassenzimmer«, der hier vor zehn Jahren tobte. Inzwischen ist die Rütli-Schule zum Vorzeigebildungsprojekt »Campus Rütli« geworden - mit viel Geld und neuen pädagogischen Konzepten. Dazu gehört auch die Galerie direkt auf dem Campus, die zwei Mal im Jahr Ausstellungen, nicht nur in Kooperation mit der Schule, sondern dem ganzen Bezirk, organisiert.

Und nun steht Stephane Leonard mitten in dieser Gruppe Jugendlicher und stellt erst mal Regeln auf: Keine Buchstaben, keine Symbole, die anderen nicht vollsprühen, auch nicht die Kamera, die ihren Schaffensprozess dokumentieren soll. Leonard ist Videokünstler, studierter Zeichner und hat für die Galerie die Ausstellung »Inseln« geschaffen, oder ist vielmehr mittendrin. Die SchülerInnen einer achten Klasse der Rütli-Schule sind seine Verbündeten. Sie sollen mit Spraydosen die von ihm vorgegebenen Grafiken, die er mit speziellem Klebeband auf Pressspanpaneelen angebracht hat, verändern, ergänzen, übermalen. Die Jugendlichen bewegen sich frei im Raum, bis auf die eingangs formulierten Vorschriften ist alles erlaubt. Die ersten Penisse, Bongs und Stinkefinger prangen an der Wand, die die Gruppe vor ihnen hinterlassen hat. Ein Mädchen schrieb »CR 7« (Der Fußballspieler Cristiano Ronaldo trägt die Rückennummer sieben) an die Wand, darum drei Herzchen. »Überlegt euch mal. Ist es das, was von euch in der Ausstellung bleiben soll?«, versucht Leonard das ganze in irgendwie abstrakte, irgendwie künstlerisch wertvolle Bahnen zu lenken, nachdem auch die ersten in dieser Gruppe beginnen, das Symbol einer Turnschuhmarke an die Wand zu sprühen.

Dann wird es still im Raum. Der 14-jährige Oman überlegt kurz, greift zur schwarzen Spraydose und zeichnet ein Viereck auf die Spanplatte, dazu zwei Augen und Nasenlöcher und traurige Mundwinkel. »Alle Formen drum herum sind rund und fröhlich, das ist doch langweilig«, sagt er. Eigentlich ist Kunstunterricht überhaupt nicht sein Ding, aber die Freiheit, die ihm das Arbeiten hier lässt, gefällt ihm. »Trauriger Roboter« nennt er sein Kunstwerk, das er nach der halbstündigen Session, die jede Schülergruppe mit Leonard hat, hinterlässt.

Der Künstler will mit der Aktion die eigenen Grenzen austesten, die Umwelt bei seinen Bildern mitsprechen lassen, sagt er. »Etwas von meinem Kunstwerk abzugeben, ist hart, klar. Aber gleichzeitig hat dieses Ungewisse, dieser frische Blick auf meine Arbeit etwas Befreiendes.«

Immer wieder klebt Leonard Elemente seiner eigenen Zeichnungen und die der SchülerInnen ab, damit sie vor der Intervention der anderen geschützt sind. Am Ende soll dadurch ein vibrierendes Puzzle der mindestens 20 Sichtweisen entstehen. Die 1,50 mal 2,50 Meter hohen Wände sind montierbar. Leonard will sie zum Schluss zu einer urbanen Architektur zusammenbauen. Die einzelnen Werke sind der radikalen Vergänglichkeit unterworfen. Vier SchülerInnen᠆gruppen werden in zwei Durchgängen immer wieder das verändern, was die Gruppe vor ihnen geschaffen hat. »Es geht darum, dass sie versuchen zu reflektieren und zu bewerten«, sagt Leonard. Was ist Wert, dass es bestehen bleibt, was kann verändert und damit neu erschaffen werden? Jeder Schüler wird zwei Mal mit einer Woche Abstand wiederkommen und sein Kunstwerk vielleicht übermalt wiederfinden.

So geht es auch Omans traurigem Roboter. Die nächste Gruppe aus der Klasse streift sich die schwarzen Schutzanzüge über. Sie setzen die Atemmasken auf und greifen zu einer der zwanzig Dosen, die auf dem Boden verteilt sind. »Omans Roboter ist voll hässlich«, sagt Mikail und schon ist von dem schwarzen weinenden Gesicht nichts mehr zu sehen. Stattdessen: eine bunte Spirale in orange-blau. »Besser«, sagt der Künstler. Mikail ist voll konzentriert, während die Mädels neben ihm bunte florale Muster an die Wand sprühen, quieken und kreischen, zieht er die geschwungenen Linien weiter, die sich wie ein Krake über die halbe Wand ausbreiten. »Am Ende wird es darum gehen, das eigene Empfinden für Schönheit zu rechtfertigen«, sagt Leonard, denn zum Schluss treffen alle aufeinander. Oman hatte beim Gehen noch gesagt, ihm würde es nichts ausmachen, wenn sein Roboter übermalt würde, schließliche habe er den nur so »dahin gemalt«. Wer weiß, was am Ende bestehen bleibt? Nächste Woche wird Oman wiederkommen zu einer zweiten Sitzung, dann wird er sich wohl fragen müssen, wie absolut seine Gleichgültigkeit tatsächlich ist.

15. bis 29. Juni, Temporäre Galerie, Rütlistraße 35, Neukölln

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