Vom Charme schwimmender Lagerhallen

Eine bequeme Sitzgelegenheit, kühle Getränke und ein geeigneter Platz in der Sonne – es gibt Beschäftigungen, die größeren Aufwand erfordern als Schiffe gucken oder, wie man heutzutage sagt: Shipspotting. Insbesondere zwischen Cuxhaven und Hamburg gibt es unzählige wunderbare Orte, an denen Containerschiffe, die zu den größten der Welt zählen, in unmittelbarer Nähe vorbeirauschen. Dank moderner Technik muss man auch nicht pausenlos am Elbestrand ausharren, um kein besonders beeindruckendes Exemplar zu verpassen. Der Schiffsradar ermöglicht, es ins Auge zu fassen, bevor es leibhaftig am Horizont auftaucht, und die unmittelbare Zukunft entsprechend zu planen.

Ein Containerschiff von 400 Meter Länge, knapp 60 Meter Breite und beinahe ebenso hoch aus dem Wasser ragend die Elbe durchpflügen zu sehen, ist ein beeindruckendes Erlebnis und kann süchtig nach mehr machen. Am liebsten noch eines, es muss ja nicht ganz so groß sein. Liegt noch eines im Hafen, das bald losfahren könnte? Und plötzlich ertappt man sich dabei, wie man mitten in der Nacht auf eine hunderte Meter lange, brummende Lichterkette starrt.

Während Kreuzfahrtschiffe aussehen wie aufgetakelte Einkaufs- und Vergnügungszentren und nachts grell leuchten wie ein Weihnachtsmarkt, haben Containerschiffe den Charme riesiger schwimmender Lagerhallen, denen die bunten Metallkisten gleichzeitig etwas Spielerisches verleihen. Nicht nur, weil sie ausgesprochen fotogen sind, dienen Abbildungen der größten Kähne, der Kranreihen oder der riesigen Areale voller Stahlkisten in den Containerterminals standardmäßig zur Illustration von Nachrichten zu Im- und Export, Wirtschaftsaufschwung oder Krise, egal ob im In- oder Ausland. Unter den Bildern, die die zerstörerische Kraft des Tsunamis dokumentierten, der im März 2011 die nordjapanische Küstenregion verwüstete, waren Luftaufnahmen des Containerhafens von Sendai, nordöstlich von Fukushima, mit den wild durcheinander liegenden Stäbchen von vier Tonnen Leergewicht in Rot, Blau, Grau, Grün oder Orange und Aufschriften wie »K«line, APL, Maersk, Donjin oder Hapag-Lloyd.

Das Containersystem steht wie nichts anderes für den globalisierten Handel. Innerhalb von 50 Jahren hat sich die Welt, ohne dass dafür Uno-Weltkonferenzen nötig gewesen wären, auf ein einheitliches Transportsystem geeinigt. Bei Unternehmen, Schiffen und Häfen hat ein beispielhafter Konzentrationsprozess stattgefunden: Immer weniger Reedereien betreiben immer größere Schiffe, die nur wenige zentrale Containerhäfen anlaufen, von denen aus die Fracht weiterverteilt wird. Die größten Containerschiffe, die mittlerweile knapp 20.000 TEU fassen - Twenty-foot Equivalent Unit oder Standard-20-Fuß-Container; das entspricht 10.000 »großen« Containern -, fahren, grob gesagt, zwischen den größten Exportnationen China und Deutschland hin und her und transportieren den Bärenanteil aller Konsumgüter über die Meere. Ihre Beflaggung ist nur insofern von Bedeutung, als die Reedereien die für sie günstigste auswählen; die kaum zwei Dutzend Personen starke Besatzung ist zumeist ein schlichtes Abbild der internationalen Arbeitsteilung. Da sich unzählige Unternehmer auf diese Weise die Transportkosten für ihre Waren teilen, sind sie so gering, dass sie in der internationalen Wirtschaftskonkurrenz kaum mehr eine Rolle spielen. Die eigentlichen Personalkosten dürften wiederum gegenüber Hafen- und Kanalgebühren sowie Treibstoff schlicht ein Witz sein.

Gesetzt den Fall, es sind nicht überdurchschnittlich viele Container leer oder mit Altpapier statt mit Laptops vollgeladen, kann ein solches Riesenschiff, den Eigenwert mitgerechnet, eine schwimmende Milliarde sein. So genau weiß das niemand, denn um sich mit den Details der Ladung zu beschäftigen, die, einzeln auf Lkw verladen, auf der Autobahn bei empfohlenem Sicherheitsabstand ein Spur durch die halbe Republik belegen würde, bleibt keine Zeit. Und es besteht auch keine Notwendigkeit dafür: Das Transportsystem selbst interessiert lediglich, wohin die Behälter zu schaffen sind, ihr Gewicht sowie allenfalls noch, ob Kühlung notwendig ist.

Entsprechend sind die Containerhäfen, wo die unschätzbaren Werte in endlosen, wie mit dem Lineal abgemessenen Reihen gestapelt stehen, abgeriegelte Terrains meist außerhalb der Hafenstädte. Die penible Ordnung ist zwingend notwendig für das vollautomatische Be- und Entladesystem, das ebenfalls beinahe ohne Menschen auskommt. Die Terminals, wo Stunden über Stunden ein Container nach dem anderen an Kränen durch die Luft segelt, sind das genaue Gegenteil der belebten und besungenen Häfen der Vergangenheit. Es mag nicht zuletzt diese gespenstische menschliche Leere sein, die die Faszination des Systems ausmacht. Drängeln sich auf Kreuzfahrtschiffen die Menschen wie Ameisen auf den Decks, bleibt die knappe Besatzung der modernen Riesenfrachtschiffe für das Auge der Beobachterin unsichtbar. Mit bloßem Auge ist kein Arbeiter an der Reling zu sehen, und ganz sicher überprüft der Kapitän nicht, ob die Ladung ordentlich festgezurrt ist.

Bei allem Wissen darum, dass es sich bei den Containerschiffen um Motoren des Kapitalismus handelt, um die Millionen Tonnen von Schweröl, mit denen sie betrieben werden, veränderte Landschaften, zerstörte Ökosysteme und nicht zuletzt die unsichtbaren Menschen, die es zwischen Schiffsmotor und Stahlkisten eben doch gibt – nächstes Mal vielleicht ein Containerschiff im Sonnenaufgang …?

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