Extrawurst hat ausgedient

Kurt Stenger plädiert nach dem Brexit-Votum für einen raschen Schnitt - gegen Rechtspopulismus und Neoliberalismus

Ökonomen sind schnell mit Konjunkturprognosen bei der Hand, wenn sich die Welt ein Stück weitergedreht hat. Der Brexit kostet die deutsche Wirtschaft 2017 einen halben Prozentpunkt Wachstum, hat das gewerkschaftsnahe IMK ausgerechnet. EU-Zentralbank Mario Draghi warnt vor einer Konjunkturdämpfung in der Eurozone um 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte in den kommenden drei Jahren. Analysten in Zürich sehen sogar leichte Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft. Derartige Prognosen sind bekanntlich höchst ungewiss, da sehr viele Variablen eine Rolle spielen. Klar ist nur, dass sich die Hauptgefahren aus den Unsicherheiten über die weitere Entwicklung ergeben - dies schreckt nämlich Investitionen ab.

Deshalb wäre das rasche Erstellen eines Brexit-Fahrplans wichtig, worüber beim EU-Gipfel aber Uneinigkeit herrschte. »Jetzt warten wir die Dinge mal in aller Ruhe ab«, meinte Kanzlerin Angela Merkel. Sie kann sich dies leisten, denn wirtschaftlich läuft es in Deutschland relativ gut und Bundesanleihen werden von Anlegern als Krisenhafen angesehen, was die Zinsen des Staates senkt. Es liege an den Briten, »so schnell wie möglich« den Zeitpunkt für die Umsetzung des Austritts bekannt zu geben, mahnte dagegen Frankreichs Präsident François Hollande im Bündnis mit Italiens Regierungschef Matteo Renzi. In beiden Ländern stagniert die Wirtschaft, die Brexit-Krise lässt die Anleiherenditen steigen und verteuert staatliche Kredite.

Die Ungeduld ist daher mehr als berechtigt. Zwar ist bedauerlich, dass viele, vor allem junge, europabejahende Briten die negativen Folgen der rechtspopulistischen Brexit-Kampagne ausbaden müssen, aber die EU braucht einen klaren Schnitt. Auf-Zeit-spielen und Weiter-so, gepaart mit Selbstbedauern oder Beleidigtsein wären der falsche Weg. Angesagt ist ein selbstbewusster, offensiver Umgang mit dem, was an Veränderung ansteht.

Eines macht der Brexit klar: Es ist kontraproduktiv, durch ständig neue nationale Extrawürste und Beitragrabatte den Status quo in der EU halten zu wollen. Die britische Elite war die ganze Zeit nur halbherzig drin - man hat die Vorteile genossen, ansonsten aber störende Regeln ignoriert, etwa wenn es um den Schutz des heimischen Bankensektors ging. Trotzdem tritt man nun aus. Die Lehren daraus müssen bei den anstehenden Verhandlungen mit den Briten gezogen werden: Wollen diese den lebensnotwendigen Freihandel mit der EU behalten, müssen sie auch alle anderen Freiheiten akzeptieren - etwa bezüglich des unbegrenzten Zuzugs von EU-Ausländern auf die Insel, gegen den die Brexit-Befürworter besonders wettern.

Dies ist nur ein Beispiel für das, was der EU-Austritt in den kommenden Monaten und Jahren deutlich aufzeigen wird: Rechtspopulisten, egal ob sie radikal oder eher bürgerlich daherkommen, haben dumpfe Parolen, aber keine Lösungen für tatsächliche Probleme der Bürger. Das liegt insbesondere daran, dass sie nicht die Opposition zum auch in der EU dominanten Neoliberalismus sind, sondern nur dessen nationalistischer Bullterrier. Die Herrschaft des Marktes wird nicht infrage gestellt, sondern nur noch brutaler durchgesetzt. Der einzig fortschrittliche Aspekt am Neoliberalismus, die Internationalisierung, wird auch noch gekappt.

Der Brexit könnte ein Befreiungsschlag sein, um Nationalisten und Rechtspopulisten in der EU die rote Karte zeigen. Staaten wie Ungarn sollte nahegelegt werden, dem britischen Beispiel zu folgen, wenn sie weiter gegen demokratische Grundrechte verstoßen, Grenzzäune errichten und gegen Absprachen etwa in Flüchtlingsfragen verstoßen.

Eine weitere positive Folge des Brexit ist, dass die neoliberale Fraktion erheblich geschwächt wird. London war Wortführer beim Sozialabbau, beim Ignorieren von Mindeststandards und bei der Deregulierung. Durch das Ausscheiden der britischen Regierung wird daher ein sozialeres, aber auch demokratischeres und friedlicheres Europa zumindest etwas wahrscheinlicher. Eine rein auf Austerität getrimmte Finanzpolitik, wie sie Deutschland propagiert, verliert an Rückhalt. Mehr Spielraum für die Förderung von binnenwirtschaftlichem Wachstum und Investitionen fordern schon Hollande und Renzi.

Trotz kurzfristig negativer Folgen - mittel- und langfristig bieten sich durch den Brexit Chancen. Auch für Großbritannien: Wenn die Rechtspopulisten ihr Land wirtschaftlich und politisch ruiniert haben, werden die fortschrittlichen Kräfte Oberwasser gewinnen. Empfangen sollte man sie in Europa mit offenen Armen, aber ohne Extrawürste.

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