Die Fantasie an die Macht!

David Graeber gibt mit seiner Bürokratiekritik Anregungen für die dringend benötigte linke Debatte

  • Stefan Kleie
  • Lesedauer: 4 Min.

Er hat ein Gespür für brisante Themen. Schulden - so der Titel seines vorangegangenen Beststellers - und die Bürokratie, Gegenstand des neuen Buches, gibt es seit den Anfängen der Zivilisation; sie bestimmen unseren Alltag. David Graeber, seit 2013 Professor an der renommierten London School of Economics, gilt als Vertreter einer anarchistischen Anthropologie, die die Abwesenheit von Hierarchie untersucht. Den aktivistischen Anspruch setzte er 2011 als Mitbegründer der »Occupy Wall Street«-Bewegung, für die er das griffige Motto »Wir sind die 99 Prozent« prägte, in die Tat um.

Besonders für Linke handelt es sich dabei um ein spannendes Thema, denn das Bürokratieproblem muss als »Schicksalsfrage des modernen Sozialismus« (Michael Krätke) gelten. Schon Max Weber hatte vorausgesagt, dass der Sozialismus zur Steuerung sämtlicher sozialer Bereiche auf die bürgerliche Verwaltung angewiesen sein würde, ja, diese sogar noch erheblich ausbauen müsste. In der frühen Sowjetunion sollte sich nach Lenins Tod mit Stalin auch die Herrschaft der Partei- und Staatsbürokratie durchsetzen, was nicht nur zu einem Erlahmen des revolutionären Impulses führte, sondern auch den reibungslosen Ablauf des Terrors erst ermöglichte. Doch die Sache ist komplizierter: Eine funktionierende, an Recht und Gesetz orientierte Beamtenschaft kann auch ein Hindernis für eine allzu schrankenlose Klassenherrschaft der Bourgeoisie sein. Der neoliberalen Bürokratiekritik, die mit den Parolen »schlanker Staat« und Bürokratieabbau offene Türen einrennt, geht es dabei auch immer um einen Abbau von Arbeitnehmerrechten und um eine Marktwirtschaft, die vor allem frei von staatlichen Regulierungen sein sollte. Linke Bürokratiekritik ist dagegen seit einigen Jahrzenten in Vergessenheit geraten. Es ist vielleicht das größte Verdienst dieses Buches, vor diesem Hintergrund eine zeitgemäße linke Bürokratiekritik einzufordern.

Graeber geht weder besonders systematisch noch theoretisch vor. So ist es bedauerlich, dass er für wichtige Theoretiker wie Max Weber und Michel Foucault nur ein Bonmot übrig hat. Die beiden Hausgötter der Soziologie seien die einzigen »intelligenten Menschen des 20. Jahrhunderts gewesen, die ernsthaft glaubten, die Macht der Bürokratie basiert auf ihrer Effizienz«. Graeber sieht in diesem Effizienzmythos die Grundlage für die Bürokratie als utopische Herrschaftsform. Denn tatsächlich bedeutet das Phantasma der totalen Effizienz auch, dass »ein nennenswerter Teil ihrer (der Bürokratie) Akteure nicht in der Lage ist, ihren Anforderungen erwartungsgemäß zu entsprechen«. So wimmelt es hier von teils skurrilen, teils abschreckenden Anekdoten, in denen Machtanspruch auf Inkompetenz trifft.

Als Einblick in die US-amerikanische Mentalität ist das Buch unschlagbar. Man erfährt einiges über die gegenseitige Angleichung der Unternehmenskultur und des öffentlichen Sektors seit dem 19. Jahrhundert, und dann noch einmal im Zuge des New Deal der 1930er Jahre. Mit dem mächtigen militärisch-industriellen Komplex leistet sich die USA einen gewaltigen, quasi planwirtschaftlich gesteuerten Sektor. Das von dem Pathos der Unabhängigkeitserklärung geprägte Selbstbild einer Nation von Individualisten steht dazu in krassem Widerspruch. Doch selbst US-amerikanischen Superhelden wie Batman - eigentlich eher neurotisch-bürokratische Durchschnittstypen mit zerrüttetem Privatleben - haben dagegen nichts Besseres zu tun, als die immer als zerstörerisch empfundene Kreativität ihrer diabolischen Gegenspieler abzuwenden.

Welche Anregungen gibt das Buch nun einer emanzipatorischen linken Bürokratiekritik? Graeber bedient sich eines Klassikers aus dem Theorieset der 1970er Jahre. So definiert er »strukturelle Gewalt« als »systemische Ungleichgewichte, die durch Gewaltandrohung gestützt werden.« Gewöhnlich funktioniert diese Einschüchterung, weil die »Utopie der Regeln« weitgehend internalisiert ist. Zu Ausbrüchen physischer Gewalt kommt es immer dann, wenn die eigentlich unterlegene Seite auf »alternativen Deutungsschemata« besteht. Gegen diese »politische Ontologie der Gewalt« setzt David Graeber das linke Projekt einer »politischen Ontologie der Imagination«. Eine sympathische Idee, die Potenziale der Fantasie mal nicht Batman›s Gegenspielern zu überlassen, sondern auf öffentlichen Plätzen und in aktivistischen Gruppen zu erproben.

David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. A. d. Amerik. v. Hans Freundl u. Henning Dedekind. Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 329 S., geb., 22,95 €.

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