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- »Bodenlos« von Matthias Martin Becker
Welternährung in der Heißzeit
Matthias Martin Becker schildert in »Bodenlos«, warum die Agrarindustrie die Krisen verschärft, an die sie sich eigentlich anpassen müsste
Wenn jemand die Frage nach der künftigen Welternährung aufwirft, ist meistens Skepsis geboten. Denn dann geht es beispielsweise darum, angesichts von wachsender Weltbevölkerung, Klimakrise und ökologischer Krise eine technische Lösung zu verkaufen, etwa die Entwicklung neuer Pflanzen und Tiere mithilfe von biotechnologischen Eingriffen ins Erbgut. Was nicht bedeutet, dass diese nicht partiell – zum Beispiel bei der Züchtung dürreresistenter Sorten – helfen könnten. Aber das Welternährungssystem ist viel zu komplex, um die Nahrungsmittelversorgung der Menschheit durch die Implementierung einer oder mehrerer neuer Techniken sichern zu können.
»Wer wird die Welt ernähren?«, lautet der Untertitel des Buches »Bodenlos« von Matthias Martin Becker. Diese Frage, so wird im Buch bald deutlich, muss aufgrund ihrer Vielschichtigkeit unbeantwortet bleiben.
Ein komplexes System
Becker startet vom Persönlichen, der Diskussion mit einem Freund über die Klimakrise: »Er fürchtet sich vor einer Ökodiktatur, ich vor dem Klimachaos«, schreibt der Autor, und: »Er kann es nicht mehr hören, ich kann an nichts anderes mehr denken.« Doch die Klimakrise und die damit zusammenhängende ökologische Krise, die Becker im Buch zusammen als »Heißzeit« bezeichnet, ist nur einer der Aspekte, die auf Gegenwart und Zukunft der globalen Landwirtschaft einwirken.
Die Landwirtschaft wird durch das Wirtschaftssystem, die natürliche Umgebung aber auch geopolitische Interessen und Weltanschauungen geformt. Wobei sich all diese Aspekte wiederum wechselseitig beeinflussen. Die Analyse der Bedingtheit erklärt, warum der angesichts der ökologischen Krise dringend notwendige Systemwechsel bislang nicht gelingen will und warum selbst Landwirte, die ja von den natürlichen Ressourcen abhängig sind, für laschere Umweltauflagen auf die Straße gehen – also dafür, weiter die Grundlagen ihrer eigenen Produktion zu untergraben.
Der Ist-Zustand, der im Buch mit eindrücklichen Zahlen beschrieben wird, ist hinlänglich bekannt: Eine Vervielfachung des Viehbestands für die Fleischerzeugung seit den 1960er Jahren, das Ersetzen lokaler Nährstoffkreisläufe durch globale, die von industriell erzeugtem Dünger abhängig sind und die starke Abnahme von Beschäftigten in der Landwirtschaft – laut Becker ziehen 200 Millionen Menschen im Jahr vom Land in die Großstädte. Das Fazit: »Die Intensivierung und Rationalisierung der Agrarproduktion haben ein Ausmaß erreicht, das die natürlichen Ressourcen, die Bodenfruchtbarkeit und ihre ökologische Erneuerung überfordert.« Hinzu kommen neue Schädlinge und Krankheiten, Dürren, Bodenerosion. Auch wenn die Entwicklung nicht linear verlaufen wird, ist insgesamt mit einem Rückgang der Produktivität zu rechnen.
Wenn Menschen von »Agrarindustrie« sprechen, ist dies meist kritisch gemeint und bezeichnet ein System, das genau keine Lösung für die Welternährung bietet. Doch eine Rückkehr zur kleinbäuerlichen Landwirtschaft und Subsistenz, wie von Kritiker*innen teilweise gefordert, lässt sich unter den Bedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems einerseits nicht realisieren, andererseits ist sie höchstwahrscheinlich nicht in der Lage, die Welternährung unter den Bedingungen der Heißzeit zu gewährleisten, argumentiert Becker.
Selbstausbeutung und Subvention
Um verständlich zu machen, wie die (industrielle) Landwirtschaft geworden ist, was sie ist, wirft der Autor einen Blick auf die Bedingungen, die sie von der industriellen Produktion in der Fabrik unterscheiden. Da ist zum einen stets die Autonomie der Natur, die sich nicht komplett ausschalten lässt. Die Erzeugung auf dem Feld bleibt abhängig von Wetterverhältnissen und dem organischen Produktionsmittel Boden. Letzterer ist zum einen immobil, zum anderen selbst ein Habitat von Bodenlebewesen und nicht einfach ein Nährsubstrat, in dem die gewünschten Ackerpflanzen gedeihen. Wie am Fließband beschleunigen lässt sich die Produktion nur bedingt – die Ackerfrüchte brauchen Zeit zum Reifen. (Lohn-)Arbeit lässt sich nicht wie in der Fabrik im Takt der Maschinen organisieren und die erzielbaren Stundenlöhne bleiben niedrig. Diese Faktoren sieht Becker dafür verantwortlich, dass Familienbetriebe in der landwirtschaftlichen Produktion noch immer eine wichtige Rolle spielen. Sie nutzen wenig fremde Arbeitskraft, arbeiten zu geringen Stundenlöhnen, überwachen sich selbst – kurz: Sie betreiben Selbstausbeutung.
Familienbetriebe spielen in der landwirtschaftlichen Produktion noch immer eine wichtige Rolle. Sie betreiben Selbstausbeutung.
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Trotz ihrer Leidensfähigkeit sind auch die Familienbetriebe auf staatliche Subventionen für die Landwirtschaft angewiesen, die in vielen Ländern der Welt in Millionenhöhe fließen. Doch warum überlassen die Staaten die Landwirtschaft nicht den freien Kräften des Weltmarkts? In jüngster Zeit kommen geopolitische Interessen zum Tragen, das eigene Land im Zweifelsfall selbst versorgen zu können, doch die Subventionen sind älter als diese Interessen.
Staaten haben, so erläutert Becker, ein Interesse, dass Nahrungsmittel nicht zu teuer werden, damit die Arbeitskosten nicht zu hoch sind. Dass in Deutschland heute nur noch rund 15 Prozent des Einkommens für die Ernährung ausgegeben werden, statt wie 1950 rund 50 Prozent, kurbelt auch den restlichen Konsum und damit die Wirtschaft an. Gleichzeitig dürfen Nahrungsmittel nicht zu günstig sein oder in Subsistenz erwirtschaftet werden, denn dann wird Lohnarbeit irgendwann unnötig und die Menschen haben kein Bedürfnis mehr, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Der Staat muss in dieser Hinsicht gegenüber der Landwirtschaft widerstreitende Interessen vertreten: Er will die Nahrungsmittelpreise günstig halten und gleichzeitig die Produktion im Inland erhalten (die auf ein gewisses Preisniveau angewiesen ist). Auf dem Weg zum Markt wird es dann noch mal komplizierter, denn die wenigsten Erzeuger vermarkten ihre Produkte in größerem Umfang selbst.
Den Landwirten bleiben in diesem System nur begrenzte Spielräume. Um vom Verkauf ihrer Produkte leben zu können, sind sie zur Rationalisierung gezwungen – die nicht immer eine höhere Effizienz bedeutet – und Umweltauflagen verteuern tendenziell die Produktion. Auch die Investition in »grüne« Technologien lohnt sich nur dann, wenn die Produktion durch sie gesteigert werden kann. Investitionen, die nur der Aufrechterhaltung des Status quo dienen, machen aus kapitalistischer Perspektive wenig Sinn, argumentiert Becker. Wie kommt die Landwirtschaft dann aber zu neuen, der Heißzeit angepassten Produktionsweisen?
Fehlende Planung
Für die Innovation spielt wiederum die (staatliche) Förderung von Forschung und Entwicklung eine Rolle. Technologien von Interesse bilden hier ein breites Spektrum ab, von Agroforstsystemen über die Zucht von Insekten und Algen bis hin zur Genomeditierung von Pflanzen und Tieren und Fleisch aus Zellkulturen. Einige der Technologien und ihre Vor- und Nachteile sowie die Interessenkonflikte mit der konventionellen Nahrungsproduktion werden im Buch genauer dargestellt.
Ein besonderes Augenmerk richtet Becker auf agrarindustrielle Kreislaufwirtschaft. Diese erscheint, wenn man nicht einer romantisierten Vorstellung einer vor allem kleinbäuerlichen Landwirtschaft anhängt, als eine sinnvolle Anpassung an begrenzte Ressourcen und planetare Grenzen. In geschlossenen Systemen werden Tiere und Pflanzen miteinander verschaltet, beschreibt Becker, die Ausscheidungen der einen dienen als Nahrung der anderen. Er nimmt Bezug auf reale Beispiele wie den einst geplanten »Deltapark« in Rotterdam, der Fisch-, Geflügel- und Schweinezucht und den Anbau von Obst und Gemüse auf mehreren Etagen eines riesigen Gebäudes vereinen sollte. Das Projekt scheiterte am Widerstand der lokalen Politik, die sich mit dem »Schweinehochhaus«, in dem bis zu 300 000 Schweine gehalten werden sollten, nicht wirklich anfreunden konnte.
Aus Tierschutzperspektive gruselig, wird die Kreislaufwirtschaft in einem solchen Agropark erst ab bestimmten Größenordnungen wirtschaftlich. Ob es darum geht, von Tieren ausgeatmetes Kohlendioxid in Gewächshäuser zu leiten oder aus ihren Ausscheidungen Biogas herzustellen – solche Anlagen rechnen sich erst ab bestimmten Mengen. Doch ließen sich auch Kreisläufe oder eine sogenannte Sektorkopplung erreichen, ohne geschlossene Agrarfabriken zu konzipieren? Potenziale, Abfallprodukte nutzbar zu machen, gibt es viele: Holzreste, Klärschlamm, Gülle, Abwärme, Abwasser etc. Die Problematik besteht in erster Linie darin, diese Sektorkopplung zu organisieren, meint Becker. Für Unternehmen ist ein solcher Austausch nur interessant, wenn er sich unmittelbar in schwarzen Zahlen niederschlägt. Die Sektorkopplung hingegen erfordere eine gesamtgesellschaftliche Planung, in der erfasst wird, was wo ungenutzt vorhanden, was wo zu wenig ist. »Aber das Kapital ist nicht in der Lage, diese Synergien zu erschließen. Der Staat erzwingt es nicht durch Gebote und Verbote, Normung und Standardisierung«, schreibt Becker.
Trotz der ungeklärten Organisationsfrage, die Sektorkopplung ist einer der Auswege, denen Becker ein eigenes Kapitel widmet. Keiner davon ist allerdings das Allheilmittel für eine zukünftige Welternährung im Rahmen der planetaren Belastungsgrenzen. Ein Ausweg, dessen Gestaltung offen bleibt, ist ein internationaler Güteraustausch jenseits der kapitalistischen Globalisierung. Denn dieser wird unter den erschwerten Anbaubedingungen der Heißzeit, bei regionalen klimabedingten Ernteausfällen, immer wichtiger. Wer wird also die Welt ernähren? Becker erörtert die Komplexität und Widersprüche sowohl des bestehenden Systems als auch einer ökologischen Transformation. Hoffnung auf einfache Lösungen kann er nicht vermitteln.
Matthias Martin Becker: Bodenlos – Wer wird die Welt ernähren? Papyrossa 2025, 295 S., br., 19,90 €.
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