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Ukraine gedenkt der Opfer von Babi Jar

Heiße Diskussion über die Geschichtsschreibung begleiten 75. Jahrestag des Massenmordes an Kiewer Juden

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wir müssen alles dafür tun, dass die Tragödie von Babi Jar niemals vergessen wird«, sagt der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Aus der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag des macht Kiew eine große Staatsangelegenheit - trotz der politischen Krise und des Krieges im Donbass.

Am 29. September 1941 sollten auf Anordnung der neuen deutschen Machthaber alle in Kiew gebliebenen Juden in die Schlucht Babi Jar kommen, um angeblich als »elitäres Volk« umgesiedelt zu werden. In Wirklichkeit setzte aber die Wehrmacht zusammen mit der SS und ukrainischen Kollaborateuren einen blutigen Plan um: Bereits in den ersten 36 Stunden wurden etwa 33 000 Menschen erschossen. Bis zur Befreiung von Kiew im November 1943 stieg die Gesamtzahl der in der Schlucht getöteten Menschen auf mehr als 100 000. Neben den Kiewer Juden kamen in Babi Jar auch viele ukrainische Nationalisten ums Leben.

Das Massaker von Babi Jar war weder für die Sowjetunion noch für die Ukraine ein einfaches Thema. In der Sowjetunion wurden die Details der Tragödie lange verschwiegen. Das erste Denkmal entstand erst zum 25. Jahrestag des Massakers im Jahr 1976. Moskau wollte das gesamte Sowjetvolk als den großen Leidtragenden des Krieges darstellen - dass hauptsächlich Juden die Opfer von Babi Jar waren, passte nicht in die Wunschvorstellung des Kreml.

Vom offiziellen Kiew wird oft die Teilnahme der ukrainischen Hilfspolizei an den Morden geleugnet. Aber Israels Präsident Reuven Rivlin erinnerte am Dienstag in der Werchowna Rada: »Viele Komplizen des Babi-Jar-Verbrechens waren Ukrainer. Darunter sind die Kämpfer der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten, d.R.) hervorzuheben, die Juden getötet - oder in vielen Fällen an die Deutschen ausgeliefert haben.«

Das sorgt für eine heiße Diskussion. So entgegnete Wolodymyr Wjatrowych, Chef des staatlichen Instituts für nationale Erinnerung: »Es ist schade, dass Israels Präsident in seiner Rede sowjetische Mythen über die Teilnahme der OUN am Holocaust wiederholt hat. Das Gedenken an die Opfer von Babi Jar wäre ehrlicher ohne die Nutzung der Mythen derer, die die Erinnerung an den Holocaust löschen wollten.«

Iosif Sissels, Vorsitzender der Assoziation der Jüdischen Gemeinden der Ukraine, bedauerte: »In der Ukraine begreifen viele den Holocaust überhaupt nicht.« Das sei aber auch ein langer Weg, betonte der 69-jährige Menschenrechtler. »Europa hat den Holocaust auch erst vor etwa 25 Jahren als eine gesamteuropäische Tragödie verstanden und dort wurde er - anders als bei uns - nicht verschwiegen.« Der Ukraine ist es nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht gelungen, in Babi Jar eine vollständige Gedenkstätte zu errichten.

Seit 1992 sind dort etliche Denkmäler errichtet worden, doch ein Durchbruch erfolgte erst während der letzten Monate vor dem Jahrestag. Seit Juli wird Babi Jar, heutzutage in erster Linie ein Park in der Nähe der U-Bahn-Haltestelle Dorogoschytschi, renoviert. Dabei entstanden zwei Gedenkalleen: Die Allee der Märtyrer und die Allee der Rechtschaffenen.

Die Rekonstruktion von Babi Jahr könnte erstes Zeichen eines Fortschritts sein. Ungeachtet der großen Betroffenheit gibt es in Kiew kein Holocaust-Museum. Doch am Rande des 75. Jahrestages werden solche Pläne langsam konkreter. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko hat sich für den Bau eines Museums ausgesprochen. Auch von ausländischen Investoren, die dafür Geld zur Verfügung stellen wollen, ist bereits die Rede. »Es geht aber vor allem darum, dass die Gesellschaft und die Regierenden die Notwendigkeit eines solchen Museums verstehen müssen, was heute nicht der Fall ist«, sagt Sissels. »Diese Problematik muss nicht für Tausende, sondern für Hunderttausende Ukrainer wichtig werden.«

Bis zum 10. Oktober werden rund 40 Veranstaltungen an die Babi-Jar-Tragödie erinnern. Die große Gedenkveranstaltung, an der neben Präsident Poroschenko auch Bundespräsident Joachim Gauck und Israels Staatsoberhaupt Reuven Rivlin teilnehmen werden, findet am Abend des 29. Septembers in Babi Jar statt.

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