Die mehrfachen Überfälle von Rechtsradikalen auf einen kurdischen Flüchtling in Stralsund ändern nichts an den restriktiven Regelungen zur Residenzpflicht. Sein Wunsch, zu Verwandten nach Niedersachsen zu ziehen, wird daher bislang abgelehnt.
Wahied Saied ist 47 Jahre alt, er wirkt aber älter. Das Haar ist weiß, das Gesicht faltig. Vornübergebeugt, mit herabhängenden Schultern, den Blick auf den Fußboden geheftet, sitzt Saied im Besprechungszimmer des Göttinger Migrationszentrums. Langsam, fast unmerklich, wiegt er den Oberkörper hin und her. Über die grauen Bartstoppeln laufen Tränen, Saied weint lautlos. »Ich kann nicht zurück«, flüstert der Kurde schließlich. »Eher will ich sterben.«
Zurück heißt nach Stralsund, wo Saied seit 1996 als geduldeter Flüchtling in dem Asylbewerberheim auf dem Dänholm lebt. Er teilt sich das Zimmer mit drei anderen Flüchtlingen, alle stammen aus verschiedenen Ländern. Saieds Asylantrag wurde abgelehnt, in sein Heimatland kann er aber nicht zurückkehren. In einem Gutachten der Universitätsklinik Greifswald steht, dass der Kurde im Irak »unter Saddam Hussein politisch verfolgt und gefoltert« wurde.
In Stralsund wurde Saied von Rechtsradikalen verfolgt. Dreimal überfielen Neonazis den Kurden in unmittelbarer Nähe der Unterkunft, sie verprügelten ihn mit Fäusten und Kabelenden. Saied hat ein Attest des Stralsunder Gesundheitsamtes in der Tasche: Platzwunde auf der Lippe, Thoraxprellung und Hämatome am Oberkörper, Hautabschürfungen und ein weiteres handflächengroßes Hämatom am Bein. Beim vierten Angriff schlugen die Rechtsradikalen ihrem Opfer einen Zahn aus. »Da hatte ich keine Kraft mehr, da wollte ich mich umbringen, wie es vorher schon ein Armenier im Wohnheim getan hatte«, sagt Saied.
Nach dem Selbstmordversuch wurde der Flüchtling zehn Tage im Krankenhaus psychiatrisch behandelt. Ärzte und Therapeuten in der Greifswalder Uni-Klinik diagnostizierten schwere Depressionen, Schlaflosigkeit, Panikattacken, Angstträume, posttraumatische Belastungsstörungen. Und »latente Suizidalität«. Saied bekam Medikamente - und wurde wieder entlassen, nachdem er sich nachts in Panik in seinem Zimmer verbarrikadiert hatte.
Allenfalls im Kreis seiner Familie könne er wieder gesund werden, glaubt Saied. Und glauben Mediziner. Eine Schwester des Kurden lebt in Wuppertal, ein Bruder in der Nähe von Hannover, ein weiterer Bruder und ein Vetter wohnen in Göttingen. Einen ersten Antrag auf Verlegung, den Saied mit den Skinhead-Überfällen begründete und den Ärzte unterstützten, lehnte der Landkreis Hannover im Sommer 2000 ab. Für die Behörde sei »nicht ersichtlich, dass der Angriff gezielt gegen die Person des Herrn Saied erfolgte, so dass auch nicht davon ausgegangen werden muss, dass sich solch ein Vorgang wiederholt«. Im Übrigen liege es »an den örtlich zuständigen Ordnungsbehörden, dafür Sorge zu tragen, dass den dort wohnhaften ausländischen Staatsangehörigen keine Gefahr für Leib und Leben droht«.
Über den Antrag zum Umzug nach Göttingen vom Juni dieses Jahres hat die Stadt nach Angaben des Migrationszentrums noch nicht endgültig entschieden. Nach mehreren Gesprächen mit den zuständigen Ämtern befürchten die Flüchtlingsberater aber ebenfalls eine Ablehnung. Göttingen wolle Saied allenfalls dann aufnehmen, wenn Stralsund weiter für die Sozialhilfe aufkomme, sagt die Sozialarbeiterin Uta Gerweck.
Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge unterliegen in Deutschland strengen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen. Solange das Asylverfahren läuft, dürfen sie den Bereich der für sie zuständigen Ausländerbehörde nur mit ausdrücklicher Genehmigung verlassen. Für Flüchtlinge mit einer Duldung markieren in der Regel die Grenzen des jeweiligen Bundeslandes das Gebiet, aus dem sie nicht oder nur mit Erlaubnis ausreisen dürfen. Diese Erlaubnis wird meistens nicht erteilt, sogar Besuche bei Verwandten werden oft verboten.
Flüchtlingshilfsorganisationen prangern die so genannte »Residenzpflicht« deshalb auch als Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit und als verfassungswidrig an. Weil sie die Regelung unterliefen, müssen sich mehrere Asylbewerber vor deutschen Gerichten verantworten.
Ein Umzug in eine andere Stadt bedarf der Zustimmung der Ausländerbehörde sowohl des bisherigen als auch des gewünschten künftigen Wohnortes, wobei sich der »neue« Ort verpflichten muss, die Sozialhilfekosten zu tragen. Einen rechtlichen Anspruch auf Wohnungswechsel und einen Umzug nach Niedersachsen hat Wahied Saied mit seiner Duldung also nicht. Die Familienangehörigen und das Migrationszentrum appellieren deshalb an die Behörden, den Umzug nach Göttingen »aus dringenden humanitären Gründen« zu ermöglichen. Die Kosten sollten bei dieser Entscheidung hinter menschlichen Verpflichtungen zurückstehen, findet Uta Gerweck. Zumal sich die Verwandten bereit erklärten, für den Lebensunterhalt von Wahied Saied aufzukommen.
Weil er das Warten auf den Bescheid nicht mehr ausgehalten hat, ist Saied ohne Erlaubnis nach Göttingen gereist. Nach der Besprechung im Migrationszentrum hat ihn sein Vetter zu einem Arzt gebracht. Der schrieb den Kurden sofort krank, erklärte ihn für nicht reisefähig und überwies ihn zur stationären Behandlung in das Göttinger Landeskrankenhaus.