»Ihr werdet wahnsinnig werden«

Der Arzt Michel Cymes schildert eines der unheilvollsten Kapitel der Medizingeschichte

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor 70 Jahren, am 9. Dezember 1946, begann vor einem US-Militärgericht der Nürnberger Ärzteprozess. Auf der Anklagebank im Justizpalast von Nürnberg saßen 22 Männer und eine Frau, denen vorgeworfen wurde, sich direkt oder indirekt an bis dahin beispiellosen Medizinverbrechen beteiligt zu haben. Einer fehlte: Josef Mengele, der »Todesengel von Auschwitz«. Er hatte fliehen können und lebte, als der Prozess gegen die Nazi-Ärzte begann, unerkannt auf einem Bauernhof in Oberbayern, nur 100 Kilometer von Nürnberg entfernt. Später setzte er sich nach Südamerika ab, wo er 1979 beim Baden im Atlantik ertrank.

In seinem Buch »Hippokrates in der Hölle«, das in Frankreich zum Bestseller wurde, schildert der Medizinjournalist Michel Cymes die Verbrechen von Nazi-Ärzten, die sich nach dem Krieg fast alle für nicht schuldig erklärten. Die einen verschanzten sich hinter Befehlen, andere behaupteten wahrheitswidrig, dass KZ-Häftlinge freiwillig an den Versuchen teilgenommen hätten. Besonders zynisch sei die Berufung auf das 1933 verabschiedete deutsche Tierschutzgesetz gewesen, schreibt Cymes. Danach war es verboten, Tiere zu quälen oder unnötig leiden zu lassen. Sie hätten folglich gar nicht anders gekonnt, als mit Menschen zu experimentieren, rechtfertigten sich einige SS-Ärzte. Das Tierschutzgesetz der Nazis hatte wie so vieles im Dritten Reich völkische Ursprünge. Tierliebe galt als nationales Merkmal der Deutschen. Juden unterstellte man ein unehrenhaftes Verhältnis zum Tier. Das Tierschutzgesetz der Nazis sei mithin dem antisemitischen Geist entsprungen, meint der Umwelthistoriker Frank Uekötter. Dennoch blieb es in der Bundesrepublik bis 1972 in Kraft.

Bevor sie zu praktizieren anfingen, hatten auch die Nazi-Ärzte geschworen, ihre Patienten vor Schaden zu bewahren. Bei den im KZ Dachau durchgeführten Höhen- und Unterkühlungsversuchen taten Mediziner jedoch das Gegenteil. Sie bereiteten Häftlingen unsägliche Qualen, um zu simulieren, wie hoch Menschen fliegen und wie lange sie im eiskalten Wasser überleben können. Neben Sigmund Rascher, der die mitunter tödlich endenden Versuche durchführte (und den die SS im April 1945 wegen privater Delikte exekutierte), war daran auch der Luftfahrtmediziner Siegfried Ruff beteiligt. Er wurde deswegen in Nürnberg angeklagt, aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Von 1954 bis 1965 leitete Ruff das Institut für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt in Bonn, lehrte als Professor an der dortigen Universität und half beim Aufbau der Bundesluftwaffe.

Gänzlich unbehelligt kam Ruffs Kollege Hubertus Strughold davon. Er hatte nicht nur die Dachauer Experimente gebilligt, sondern 1942 in seinem Berliner Institut auch Unterdruckversuche an epilepsiekranken Kindern veranlasst. 1947 wurde er unter höchster Geheimhaltung in die USA geschleust. Hier stieg Strughold zum »Vater der Raumfahrtmedizin« auf und entwickelte die Raumanzüge für die Apollo-Astronauten. 1983 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.

Als einzige Frau stand in Nürnberg die Hautärztin Herta Oberheuser vor Gericht. Unter Leitung von Karl Gebhardt, dem Leibarzt Heinrich Himmlers, war sie ab 1942 im KZ Ravensbrück an Menschenversuchen zur Wundbehandlung beteiligt. Zuvor hatte man den weiblichen Opfern schwerste Verletzungen zugefügt und diese mit Bakterien, Fäulniserregern oder verdreckten Stofffetzen infiziert. Weil es damals in Deutschland keine Antibiotika gab, erfolgte die Wundbehandlung mit Sulfonamiden. Die Opfer mussten entsetzliche Schmerzen erdulden, viele starben an Sepsis oder Tetanus. »Nutzlos« gewordenen Häftlingen verabreichte Oberheuser persönlich die Todesspritze. Dennoch wurde sie in Nürnberg nur zu 20 Jahren Haft verurteilt. Bereits 1952 durfte sie das Kriegsverbrechergefängnis Landsberg wegen guter Führung verlassen. Sie arbeitete fortan als praktische Ärztin in Stocksee in Schleswig-Holstein, wo sie 1956 von einer KZ-Überlebenden erkannt, aber strafrechtlich nicht belangt wurde. Die einzige Konsequenz: 1958 verlor Oberheuser nach internationalen Protesten ihre Approbation.

In seinem Buch berichtet Cymes auch über die Versuche des Gynäkologen Carl Clauberg in Auschwitz. Weiblichen Häftlingen wurden ätzende Substanzen in die Eileiter injiziert, um sie zu sterilisieren. Die Schmerzensschreie der so Malträtierten hallten weithin durchs Lager. Andere Ärzte infizierten KZ-Häftlinge mit Fleckfieber, um die Wirksamkeit von Impfstoffen zu testen. Der österreichische Internist Wilhelm Beiglböck führte Versuche zur Trinkbarmachung von Meerwasser durch. Dafür mussten zahlreiche Häftlinge über längere Zeit reines bzw. behandeltes Salzwasser trinken. »Ihr werdet wahnsinnig werden«, hatte man diesen zuvor eiskalt mitgeteilt. Tatsächlich litten die meisten unter unerträglichem Durst. Sie hatten Schmerzen und Krämpfe und flehten, man möge die Versuche abbrechen. Doch Beiglböck brachte seine Arbeit pflichtgemäß zu Ende.

Sieben der Angeklagten von Nürnberg, darunter Karl Gebhardt, wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Sechs kamen frei, die restlichen erhielten Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslang. Doch bereits 1955 waren alle wieder auf freiem Fuß. So auch Beiglböck, der bis zu seinem Tod 1963 eine leitende Funktion im Krankenhaus von Buxtehude innehatte. Die Zahl der an Menschenversuchen beteiligten NS-Ärzte lag indes weitaus höher, als der Nürnberger Prozess zunächst erahnen ließ. Viele handelten überdies nicht allein, schreibt Cymes. »Ihre Komplizen saßen in den renommierten medizinischen Fakultäten und den Labors der Pharmaindustrie.« Doch dort wollte nach 1945 kaum jemand etwas von Menschenexperimenten gewusst haben.

Diskutiert wird bis heute über deren Nutzen für die Medizin. Cymes hält ihn für gering. »Es ergab sich fast nichts, was man nicht schon vorher wusste.« Das gelte für die Unterkühlung ebenso wie für die Meerwasserbehandlung und die Wundheilung. Die Versuche hätten Menschen nur Leid und Tod gebracht. In den USA sah man dies nach dem Krieg etwas anders. Die Experimente vieler Nazi-Forscher seien wohl unethisch gewesen, hieß es, aber keineswegs unwissenschaftlich. Selbst den Daten von Sigmund Rascher bescheinigten US-Wissenschaftler einen Wert für die Forschung.

1947 wurde im Nürnberger Ärztekodex festgelegt, was im Rahmen von Humanversuchen erlaubt und was untersagt ist. Gleichwohl schwebt der Geist der NS-Medizin gelegentlich noch heute über der Forschung, etwa wenn Medikamente an nicht einwilligungsfähigen Patienten getestet werden. Auch solche Versuchsreihen bergen in sich die Gefahr eines Zivilisationsbruchs, wie Cymes am historischen Beispiel aufzeigt.

Michel Cymes: Hippokrates in der Hölle. Die Verbrechen der KZ-Ärzte. Theiss Verlag, 198 S., 19,95 €

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