Brückenschlag hinein ins Leben

Die Weihnachtsmärkte in der Hauptstadt haben wieder geöffnet - auch der Markt am Breitscheidplatz

  • Samuela Nickel
  • Lesedauer: 4 Min.

Rund um den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gibt es auf allen Straßenseiten Blumen- und Kerzenmeere. Menschen kommen mit einzelnen weißen Rosen und legen diese nieder. Manche weinen. Die Hardenbergstraße und der Kurfürstendamm sind aufseiten des Marktes gesperrt. Der Weihnachtsmarkt hat sich an diesem Donnerstagmorgen in eine Insel der Stille verwandelt. Keine Musik. Kein Gedränge. Nicht einmal Gemurmel und Gelächter sind zu hören, so wie man es eigentlich von Weihnachtsmärkten kennt. Die Buden sind noch zu, blind schauen ihre geschlossenen Laden. Die Stille ist am einprägsamsten. Vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche breitet sich ein weiteres Meer aus Blumen und Kerzen aus. Diese Flecken der Trauer sind überall auf dem Gelände des Marktes verteilt. Um die Blumen und Kerzen herum steht stumm ein Ring von Menschen, in Gedanken, sprachlos.

Stille. In die Stille hinein tönt ein langanhaltendes Glockengeläut, das den Beginn der Andacht in der Kirche ankündigt. Ungefähr 200 Menschen halten sich während einer Schweigeminute an den Händen. Einige Plätze bleiben bei der Andacht leer. Die Menschen wirken verloren mit ihrer dicken Winterkleidung im flackernden Kerzenlicht. Ein eindrucksvolles, gemeinsam gemurmeltes Amen aber verbindet sie miteinander. Sie sind nicht allein mit ihrer Trauer. »Der Hass hat nicht das letzte Wort. Wir stehen zusammen«, sagt die Pfarrerin.

Auf dem Weihnachtsmarkt öffnen danach die Stände, einer nach dem anderen, fast schon zögerlich. Es gibt Mützen, Schneekugeln, Waffeln, Glasfiguren. Lose werden gezogen. Die ersten Glühweine werden ausgeschenkt und getrunken. Auffällig: Viele internationale Medien sind zur Wiedereröffnung des Marktes gekommen, es gibt fast mehr Kameras als Besucher. Viele der Menschen möchten in Ruhe trauern. Auch die Schausteller sitzen schweigsam und scheu in ihren Buden. »Ich versuche nicht daran zu denken«, sagt eine Verkäuferin, die gebrannte Mandeln feilbietet. An eine Holzbude, in der Figuren verkauft werden, ist ein Zettel mit der Aufschrift »ickbinberlin« geheftet. In Vierertrupps patrouillieren Polizisten mit Maschinenpistolen über den Weihnachtsmarkt.

Drei Tage nach dem Anschlag an dieser Stelle ist der Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz also wieder in Betrieb. Der Teil, in dem sich der Tatort befindet, bleibt indes geschlossen. Gedenktafeln stehen dort, wo der Lkw am vergangenen Montagabend Menschen und Stände mitgerissen hat - und wo er vor der Budapester Straße zum Stehen kam. Die Tafeln tragen die Aufschrift »Wir trauern« und zeigen eine Fotografie des Weihnachtsmarktes um die Gedächtniskirche aus der Vogelperspektive. In einer Mitteilung der AG City heißt es, nach intensiven Beratungen der AG City mit dem ausrichtenden Schaustellerverband Berlin werde der Markt wieder öffnen: »Nach diesem Schock wollen wir dennoch den Blick nach vorne richten.« Die Orte, an denen die Besucher der Opfer gedenken können, blieben erhalten.

»Es gab Pro und Kontra für die Eröffnung. Aber es ist ein weltweit sichtbares Zeichen: Wir kehren in das Leben zurück. Wir lassen uns nicht unser Lebensgefühl nehmen«, sagt der Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinhard Naumann (SPD). Er bezeichnet die Wiedereröffnung als »Brückenschlag hinein ins Leben«. Er sei ebenfalls zur Andacht und für einen Moment des Gedenkens gekommen. »Ich bin sehr beeindruckt von der Reaktion der Bevölkerung. Sie ist sehr entschlossen und gefasst, finde ich.«

Einer Einschätzung des Berliner Krisendienstes nach befinden sich viele Berliner nach dem Anschlag vom Montag noch immer in einem »professionellen Notfall-Modus«. Das gelte laut Jens Gräbener, Psychologe und Leiter des Berliner Krisendienstes, in erster Linie für Augenzeugen und Helfer. Es sei aber auch für die gesamte Stadt der erste Anschlag dieser Art. »Jeder von uns hat plötzlich eigene Bezüge, jeder bekommt Anfragen von Familienangehörigen oder Freunden. Das macht es komplett anders als nach anderen Attentaten.« Beim Krisendienst haben sich seit der Nacht zu Dienstag rund 70 Berliner gemeldet. Darunter waren auch Menschen, die Angehörige oder Freunde bei dem Anschlag verloren haben.

In seiner Rede nach dem Gedenkgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zwei Tage zuvor sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD): »Wir stehen den Angehörigen und Freunden bei in dieser schwerer Stunde und sagen: Ihr seid nicht allein! Wir teilen euren Schmerz.«

Rund um die Weihnachtsmarktstände bauen unterdessen Polizei, Feuerwehr und das Technische Hilfswerk mit einem Kran Betonbarrieren auf. Die tonnenschweren Klötze werden als zusätzliche Sicherung installiert. Sie sollen verhindern, dass sich so ein Anschlag wiederholt. Die vier Meter langen und ein Meter hohen Betonelemente wurden von der Elektro-Motorsportserie Formel E kostenlos zur Verfügung gestellt. Eigentlich sind sie für die Sicherung der Rennstrecke des ePrix vorgesehen. Auch am Brandenburger Tor, wo eine Silvesterfeier trotz der Attacke geplant ist, werden solche Betonbarrieren aufgestellt werden.

Für Freitagmorgen ist eine Sondersitzung des Innenausschusses des Abgeordnetenhauses geplant. Auf der Sitzung soll Innensenator Andreas Geisel (SPD) unter anderem darlegen, welche Sicherheitskonzepte in Berlin nach dem Terroranschlag verfolgt werden.

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