Frauenpower und russisches Woodstock

Ein Gespräch mit Marina Davydova über ihre Performance als Herzstück des Festivals »Utopische Realitäten« im HAU

  • Lesedauer: 4 Min.

Marina Davydova, wie wird in Russland das 100-jährige Jubiläum der Oktoberrevolution begangen?

Ich weiß es nicht. Im Unterschied zu den Jubiläumsfeiern von Puschkin oder Gogol, als man schon ein Jahr vorher angekündigt hatte, wann und wo welche Art von Feierlichkeiten geplant sind, weiß man das bei diesem Ereignis nicht. Man weiß nicht einmal, wie die Haltung im heutigen Russland dazu sein wird.

Aber das war doch das wichtigste Produkt der russischen Gesellschaft in den letzten 100 Jahren?

Ja, natürlich, es war »unsere« große Revolution. Aber sie war auch schrecklich. Im Grunde genommen will niemand damit zu tun haben. Die Liberalen erinnern an die vielen Toten. Es wurden viele Menschen umgebracht, Stalin war schlecht, also war auch die Revolution schlecht, meinen sie. Sie sehen nicht die Freiheitsmomente, die es auch gab. Für die Monarchisten war natürlich alles schlecht. Und selbst die russischen Kommunisten können nicht so viel mit der Revolution anfangen. Für sie begann alles mit Stalin.

Für Sie hingegen endet eigentlich alles mit Stalin, oder?

Mit der »Großen Wende« 1929 war alles vorbei, ja.

Wie darf man sich den Parcours »Eternal Russia«, also »Ewiges Russland«, vorstellen?

Es ist eine spezielle Mischung aus Parcours, Installation, Videoinstallation, Performance und Lecture. Ich gebe grundlegende historische Informationen darüber, was in Russland geschah. Es ist aber auch eine künstlerische Arbeit - ein phantasmagorischer Raum, in dem viele Gestalten der russischen Geschichte auftauchen. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Raum in einem Palast in vorrevolutionärer Zeit. Es ist aber ein Zustand, zu dem immer wieder zurückgekehrt wird. Stalin ging es auch um die Rückkehr in die alte, imperiale, zaristische Zeit. Und selbst Putin sagt, dass wir nichts Neues brauchen, dass wir eine so große Geschichte mit Nikolaus II. haben.

Das ist das neokonservative Basislager. Sie bieten aber auch Ausbruchsszenarien an?

Es gibt drei Räume utopischer Ideen. Der erste gilt den linken politischen Ideen, der zweite der russischen Avantgarde in der Kunst, der Architektur, dem Film und dem Theater, und der dritte der sexuellen Revolution, die vor allem mit der Figur Alexandra Kollontais verbunden war.

Sexuelle Revolution und Kommunismus - wie ging das zusammen?

Es dauerte auch nur eine kurze Zeit. Aber mit der Februarrevolution 1917 war Russland auf einen Schlag das liberalste Land der damaligen Zeit. Es gab ein Wahlgesetz, das auch Frauen zur Wahl zuließ. Später war Kollontai die erste Ministerin der Welt. Frauen konnten selbst entscheiden, ob sie arbeiteten und Karriere machen wollten. Sie konnten sich scheiden lassen. Sie hatten Freiheiten, die es damals in Deutschland, Frankreich oder den USA gar nicht gab. Und es gab auch kuriose Momente wie die Demonstrationen von Hunderten nackten Menschen auf den Straßen, die sich damit für ein Leben ganz ohne Kleidung aussprachen. Es war wie Woodstock, nur 50 Jahre früher!

Welche Musik haben diese nudistischen Prä-Woodstockianer gehört?

Ich weiß nicht, ob Musik überhaupt eine Rolle spielte ...

Ein Woodstock ohne Musik also ...

Ja, es hatte nichts mit der Rock-Kultur zu tun. Aber es war eine so breite Bewegung, dass sich der damalige Gesundheitsminister zu einem Brief in der Zeitung genötigt fühlte, in dem er den Demonstranten ihr Recht auf ein Leben ohne Kleidung zugestand, sie aber auch an die klimatischen Verhältnisse erinnerte, die einem solchen Leben nicht besonders zuträglich seien. In den 1930er Jahren wurden diese Leute dann kriminalisiert und zu Staatsfeinden erklärt.

Wie viele andere auch. Die Phase der politischen Utopien endete Ihrer Ansicht nach aber schon viel früher, oder?

Ja, mit der Oktoberrevolution, mit den Bolschewiki, endeten Freiheiten, die die Februarrevolution gebracht hatte.

Eine unorthodoxe Lesart, die Sie da vorschlagen ...

Mag sein. Es geht mir aber darum, auf die Freiheitsmomente hinzuweisen, die es gab. Als der Raum für politische Reformen versperrt war, gab es dann noch die bedeutende russische Avantgarde in der Kunst. An viele dieser Künstler erinnert man sich gar nicht mehr, weil sie schon so früh verfolgt wurden, den Regisseur Igor Terenjew zum Beispiel, einen wirklich radikalen Regisseur, viel radikaler als Meyerhold.

Zurück geht es dann aber immer wieder ins »Ewige Russland«, diesen Zaren-Stalin-Putin-Raum. Sehen Sie aktuell Möglichkeiten, dem zu entkommen?

Nein, das ist unser Schicksal.

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