Besprechung mit Frühstück

Vor 75 Jahren berieten hochrangige Nazis auf der Wannsee-Konferenz die Details des millionenfachen Judenmordes

»Ich habe 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein und die Massenmörder gehen frei herum und züchten Blumen.« So klagte einst der Auschwitz-Überlebende Joseph Wulf. Nach dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem hatte sich der Historiker bemüht, im Haus der Wannsee-Konferenz ein »Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus« einzurichten. Vergeblich. Er fand bei den Westberliner Stadtvätern kein Gehör. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) wiegelte ab: Er wolle nicht, dass der Ort zu einer »makabren Kultstätte« werde. Eine unbegründete Befürchtung, wie sich seit einem Vierteljahrhundert erweist. Wulfs Suizid 1974 war auch und vor allem dem Schweigen der Täter sowie der Brüskierung der Opfer in Westdeutschland geschuldet.

Die seit 25 Jahren im Haus Am Großen Wannsee 56-58 befindliche Gedenk- und Bildungsstätte erinnert an ihn, trägt seinen Namen. Dass seine Initiative doch noch - wenn auch reichlich spät - umgesetzt wurde, verdankt sich Richard von Weizsäcker, der 1982 als Regierender Bürgermeister am Ort der berühmt-berüchtigten Wannsee-Konferenz (an der offenbar auch sein Vater teilnehmen sollte) erstmals zu einer Gedenkveranstaltung lud. Fünf Jahre später beschloss der Senat, das Haus, in dem sich nach dem Krieg ein Schulungsheim der Sozialdemokraten befand, in einen Gedenkort umzuwandeln. Zum 50. Jahrestag der Wannsee-Konferenz wurde die Gedenk- und Bildungsstätte eröffnet, die mittlerweile jährlich 100 000 Besucher zählt und über eine der größten Bibliotheken zu jüdischem Leben in Deutschland und Shoah verfügt.

Ein doppelter Jahrestag

wird an diesem Donnerstag im Haus der Wannsee-Konferenz begangen: Zum einen findet am 19. Januar eine Gedenkveranstaltung mit dem Präsidenten des Bundestages, Norbert Lammert, sowie der Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters, statt.

Zum anderen kann die Gedenk- und Bildungsstätte auf ein 25-jähriges Bestehen zurückblicken. Als zweimillionste Besucher konnte sie übrigens kürzlich die fünfköpfige Familie Rosenzweig aus New York begrüßen.

Zum 75. Jahrestages erschien jetzt von Hans-Christian Jasch und Christoph Kreutzmüller im Metropol-Verlag der Band »Die Teilnehmer. Die Männer der Wannsee-Konferenz« (336 S., geb., 24 €).

Im Zentrum der ständigen Ausstellung steht selbstredend die Konferenz, die im ehemaligen Speisezimmer der 1915, inmitten des Ersten Weltkrieges, im Auftrag des Fabrikanten Ernst Marlier erbauten und ab 1941 als Gäste- und Tagungshaus der SS dienenden Villa stattfand. Im Fokus sind hier natürlich auch die Teilnehmer, gemeinhin euphemistisch Schreibtischtäter genannt. Gewiss, sie haben sich selbst nicht die Hände mit dem Blut der Opfer »beschmutzt«, und doch hätte es ohne sie nicht die sechs Millionen furchtbaren Morde gegeben. Eine Tatsache, die angesichts der Reden und Schriften heutiger Neonazis, Volksverhetzer und rechter Populisten mehr denn je Allgemeingut sein sollte.

Wer waren die fünfzehn Männer, die sich vor 75 Jahren zu einer »Besprechung mit anschließendem Frühstück«, wie es im Einladungsschreiben von Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), hieß, trafen? Welche Funktionen nahmen sie im NS-Regime ein? Was trieb sie an? Was geschah mit ihnen nach 1945?

»Es war keine homogene, sondern eine sehr heterogene Gruppe«, sagt Hans-Christian Jasch, seit zwei Jahren Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte, gegenüber »neues deutschland«. Der Rechtshistoriker hat mit Christoph Kreutzmüller, Kurator im Jüdischen Museum Berlin, dieser Tage ein Buch auf den Markt gebracht, in dem die Lebensläufe der Teilnehmer vorgestellt werden. Die Buchpremiere fand in Jaschs Gedenkstätte statt, mit - nach Wunsch - anschließender Führung.

Anders als der britisch-amerikanische Film »Die Wannsee-Konferenz« (2001, Regie: Frank Pierson) suggeriert, waren die Konferenzteilnehmer keine Charaktere, die einem Shakes-peareschen Drama hätten entsprungen sein können. Sie waren keine »diabolisch-psychopathischen Bestien«, so Jasch und Kreutzmüller, sondern tatsächlich »ganz normale Männer«, wie es einst der US-amerikanische Historiker Christopher Browning formulierte. Sie wussten sich zu benehmen und die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen, waren teils umsichtige, treu sorgende Familienväter und umgaben sich in ihren eigenen vier Wänden gern mit Kunstwerken aus Beutezügen in ganz Europa. Das Durchschnittsalter der am 20. Januar 1942 am Wannsee zusammengekommenen Männer betrug 42 Jahre. Mit Ausnahme des Vertreters des Reichsaußenministeriums, des Unterstaatssekretärs Martin Luther, sowie des Juristen Wilhelm Stuckart entstammten sie bürgerlichen Elternhäusern. Ein Teilnehmer war ein Pfarrerssohn, elf der Fünfzehn waren protestantisch geprägt, drei katholisch. Die Mehrheit waren Preußen, zwei kamen aus Sachsen; anwesend waren zudem ein Württemberger, ein Bayer, ein Österreicher und ein Russlanddeutscher. Sieben hatten im - welch militantes Wort! - »Stahlgewitter« (Ernst Jünger) gestanden, also im Ersten Weltkrieg gekämpft.

Wie Jasch und Kreutzmüller weiter recherchierten, hatten zehn der Fünfzehn studiert, davon neun Rechts- respektive Staatswissenschaften; acht verfügten über einen Doktortitel. Sie radikalisierten sich vielfach in Freikorps und Studentenverbindungen. Für Kreutzmüller »besonders auffällig« ist, dass drei der Konferenzteilnehmer in Jena studiert hatten: »Die Alma Mater Jenensis war bereits in den 1920er Jahren ein Hort völkischen Gedankengutes. Unter dem Rektorat des NS-Rassenforscher Hans Günther avancierte sie zu einer ›nationalsozialistischen Musteruniversität‹«. Einige Teilnehmer, so der noch im selben Jahr, im August 1942, zum Präsidenten des »Volksgerichtshofes« ernannte Roland Freisler sowie Otto Hofmann vom Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, Alfred Meyer vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und Wilhelm Stuckart vom Reichsministerium des Inneren, galten als »Alte Kämpfer« und trugen das »Goldene Parteiabzeichen« am Revers. Während Eichmann, Heydrich und Luther 1931/32 in die NSDAP eintraten, wurden andere erst nach Aufhebung des Aufnahmestopps - Reaktion auf den massenhaften Andrang nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler - Mitglieder, so Rudolf Lange und Heinrich Müller vom RSHA und Ministerialdirektor Friedrich Wilhelm Kritzinger aus der Reichskanzlei (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Dichter des Weihnachtsliedes »Süßer die Glocken nie klingen«).

Die Dienststellen der Teilnehmer befanden sich vorwiegend in der Berliner Wilhelmstraße, ihre Wohnsitze in den vornehmen Vierteln der »Reichshauptstadt«: in Zehlendorf, Steglitz und Tiergarten. Mehrheitlich kannte man sich bereits persönlich von etlichen Begegnungen vor dem 20. Januar 1942. Man war unter sich bei der Besprechung des in der Geschichte einzigartigen Völkermordes. »Und man sprach Klartext«, betont Jasch. Erst in dem von Eichmann anschließend abgefassten Protokoll der Konferenz wird die Mordabsicht teils etwas verklausuliert.

Einige der fünfzehn Mörder waren Mitglieder angesehener »Herrenclubs«. Zumindest Eichmann, Heydrich, Müller, Stuckart und Erich Neumann, Bevollmächtigter für den Vierjahresplan, nahmen laut Kreutzmüller bereits am 12. November 1938 an einer Tagung im Reichsluftfahrtsministerium teil. Auf dem zwei Tage nach der reichsweiten Pogromnacht stattfindenden Treffen verkündete Göring des »Führers« Weisung, dass die »Judenfrage jetzt einheitlich zusammengefaßt werden soll und so oder so zur Erledigung zu bringen ist«.

Spricht diese Äußerung des Reichsmarschalls dafür, dass es einen expliziten Befehl Hitlers zur »Vernichtung der Juden« gegeben hat? In der Geschichtsschreibung ist dies nach wie vor umstritten. Jasch kann das Insistieren der »nd«-Redakteurin auf diese Frage verstehen. »Angesichts der Ungeheuerlichkeit des Verbrechens an den europäischen Juden glaubt man, es müsse einen konkreten Ort und Zeitpunkt geben, an dem Hitler den Befehl zum Genozid gegeben hat. Doch anders als bei den Euthanasiemorden, wo es einen Fünfzeiler von Hitler gibt, der seinen Leibarzt Karl Brandt und SS-Obergruppenführer Philipp Bouhler ausdrücklich zu den sogenannten T-4-Aktionen ermächtigt, ist ein solches Dokument für den Völkermord an den Juden bisher nicht aufgefunden worden.« Der Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus am Wannsee will nicht ausschließen, dass es ein solches gab: »In Nürnberg sagte ein Mitarbeiter Eichmanns aus, man habe ihm ein derartiges Schriftstück gezeigt. Eichmann habe dieses in seinem Safe aufbewahrt.« Doch dann gibt Jasch zu bedenken: »Von dem, was wir über Hitlers erratischen Führungsstil wissen, spricht einiges dafür, dass er den Befehl mündlich gab oder eher als Wunsch artikulierte, den dann sein Umfeld als Weisung auffasste.« Der Forscher ergänzt: »Auf mündliche ›Führer‹-Befehle nehmen etliche Briefe und Anordnungen hoher NS-Führer Bezug. Zudem wurde die sogenannte Endlösung in Deutschland in aller Öffentlichkeit diskutiert. Jeder wusste Bescheid.«

Die Streitfrage ist letztlich, jedenfalls für Nicht-Historiker, irrelevant. Gab es doch von Hitler seit Abfassung seines autobiografischen Pamphlets »Mein Kampf« zahllose Äußerungen, die seinen mörderischen Judenhass offenbarten. Im »nd«-Gespräch verweist Jasch zusätzlich auf eine Besprechung am 12. Dezember 1941, einen Tag nach der Kriegserklärung Deutschlands an die USA, über die Goebbels in sein Tagebuch vermerkte, »der Führer ist entschlossen, mit den Juden reinen Tisch zu machen«. Der Reichspropagandaminister nahm dabei erneut Bezug auf Hitlers demagogische »Prophezeiung« vom 30. Januar 1939, in der er dem Judentum mit »Vernichtung« gedroht hatte, wenn es erneut zu einem Weltkrieg kommen würde.

Etwa zwei Stunden dauerte die »Besprechung mit anschließendem Frühstück«, von 12 bis 14 Uhr. Danach saßen laut Eichmann noch Heydrich, Müller und er selbst in der Bibliothek des Hauses, um bei einem Cognac »zu entspannen« und die Grundzüge des Protokolls abzustimmen. Dieses umfasst 15 Seiten, trägt keine Unterschrift und wurde, so Jasch, in 30 Exemplaren angefertigt. Das einzige bis heute aufgefundene ist mit der Nummer 16 gekennzeichnet, an Luther adressiert und wurde 1947 von den Amerikanern aufgefunden. »Es gilt seitdem als ein Schlüsseldokument des Holocaust, obwohl bei der Wannsee-Konferenz nicht die ›Endlösung‹ beschlossen, sondern ›nur‹ Details besprochen wurden.« Und dies sehr konkret. So listet ein Blatt des als Kopie in der Ausstellung zu sehenden Protokolls (das Original liegt im Auswärtigen Amt) die Zahlen der aus den okkupierten wie auch unbesetzten Ländern, so Irland, Spanien und der Schweiz, in die Ghettos und Vernichtungslager zu deportierenden Juden auf. Woher die Konferenzteilnehmer die Zahlen bezogen, können weder Jasch noch Kreutzmüller mit Gewissheit sagen. Das Protokoll gibt als Mordziel elf Millionen Menschen vor.

Wer waren die Fünfzehn? Bestien oder Befehlsempfänger, gefühlslose Bürokraten oder willenlose Rädchen im Getriebe des NS-Terrors, Überzeugungstäter, Opportunisten oder gewöhnliche Verbrecher? Ich meine, von all dem etwas. Sie waren Mörder, die nach der Zerschlagung ihres »Tausendjährigen Reiches« alle Schuld von sich wiesen oder kleinredeten - so sie das Kriegsende erlebten. Der 38-jährige Heydrich, in Literatur und Film der »junge Todesengel des Dritten Reiches« genannt, erlag kein halbes Jahr nach der von ihm geleiteten mörderischen Besprechung, am 4. Juni 1942 dem gerechten Zorn tschechischer Widerstandskämpfer. Die Rache der Faschisten war grausam: Sie löschten Lidice aus.

TIPP: Haus der Wannsee-Konferenz, Gedenk- und Bildungsstätte

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