Mörder unter falscher Flagge?

Vor dem 3. Jahrestag des Maidan-Massakers fehlen vor Gericht Beweise für Berkut-Schuld

  • Ulrich Heyden
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Todesschüsse auf dem Kiewer Maidan jähren sich das dritte Mal. Die Untersuchungen stocken.

Von Ulrich Heyden, Moskau

Zwischen dem 18. und 20. Februar 2014 starben in Kiew auf dem Maidan und umliegenden Straßen mehr als 100 Menschen. Medien und Politiker in Kiew und Deutschland hatten damals schnell ihr Urteil gefällt. Die Schützen seien Polizisten der Spezialeinheit Berkut gewesen, hieß es. Doch mit der gerichtlichen Feststellung und Verurteilung tut man sich in Kiew bis heute schwer. Das liegt nicht an »russischer Einflussnahme«, sondern an mangelnden Beweisen.

Fünf der Polizisten stehen vor dem Swjatoschinski-Bezirksgericht. Laut Anklage haben sie im Februar 2014 auf der Kiewer Institutskaja-Straße - unweit des Hotels »Ukraina« - 48 Demonstranten erschossen. Am Dienstag erklärte Richter Sergej Djatschuk, er hoffe, dass die Ermittlungen noch in diesem Jahr soweit vorankommen, »dass wir eine Perspektive bekommen, wann das Verfahren abgeschlossen werden kann«. Allerdings seien seit Beginn der gerichtlichen Einzelfall-Untersuchung im Mai 2016 erst 47 von 128 Vorfällen behandelt worden. Nur 60 von 140 Verletzten kamen zu Wort.

Dass das Gerichtsverfahren gegen die ehemaligen Berkut-Polizisten nicht vorankommt ist aber nicht nur Schuld eines langsam arbeitenden Gerichts, sondern auch der ukrainischen Rechtsradikalen. Die sprengten die Gerichtsverhandlungen schon zwei Mal: am 25. November 2016 und am 10. Januar 2017. Wenn die Ultranationalisten aber nichts sehnlicher wünschen, als die Bestrafung der Berkut-Polizisten, warum verhindern sie dann immer wieder Gerichtsverhandlungen? Sie können offenbar fürchten, dass ihre eigene Täterschaft herauskommt.

Am 25. November 2016 hatten Mitglieder des Rechten Sektors die Vertagung einer Verhandlung des Swjatoschinski-Gerichtes in Kiew erzwungen. Sie blockierten das Kiewer Untersuchungsgefängnis und verhinderten, dass die ehemaligen Berkut-Polizisten zum Gericht gefahren wurden. Auf der Gerichtsverhandlung sollte der ehemalige Präsident der Ukraine Viktor Janukowitsch - vom südrussischen Rostow am Don aus per Skype - zum Einsatz der Polizisten vor dem Kiewer Gericht aussagen. Die Verhandlung musste verschoben werden. Am 28. November 2016 sagte er auf einer erneut angesetzten Gerichtsverhandlung aus, er habe keine Genehmigung zum Einsatz von Schusswaffen gegeben.

Am 10. Januar besetzten als »Verletzte vom Maidan« verkleidete Aktivisten der rechtsradikalen Organisationen C14 und Asow/ziviler Korps den Gerichtssaal. Sie protestierten gegen die »Verschleppung« des Verfahrens und forderten die unverzügliche Verurteilung der Berkut-Leute. Als sie ihre Aktion nicht beendeten, musste die Verhandlung vertagt werden.

Auf der Gerichtsverhandlung am 10. Januar 2017 sollte es um den Tod von Ustim Golodnjuk gehen. Der 19-Jährige gehörte zum Maidan-Selbstschutz. Der Demonstrant war am 20. Februar 2014 mit einem Kopfschuss getötet worden, als er half, die von unbekannten Scharfschützen Erschossenen im Eingang der U-Bahn-Station Kreschatik zu bergen. Nach seinem Tod wurde er posthum mit dem Orden »Held der Ukraine« ausgezeichnet.

Trotz eines fast einstimmigen Chors von Medien und Politikern, welche die Berkut-Polizisten als Schuldige für über 100 Tote bezeichneten, wurde die Vorverurteilung der Polizisten schon im Frühjahr 2014 von Journalisten und Wissenschaftlern in Frage gestellt. Im Monitor-Programm des WDR hatten Journalisten am 10. April 2014 in einem Video nachgewiesen, dass Einschüsse in den Straßenbäumen auf der Institutskaja-Straße von Projektilen stammen, die von den oberen Etagen des Hotels »Ukraine« abgefeuert wurden. Das Hotel stand in diesen Tagen unter Kontrolle des Maidan.

Der kanadische Professor Iwan Katschanowski ermittelte in einer umfangreichen Untersuchung, dass aus Gebäuden, die unter Kontrolle des Maidan standen, auf Demonstranten geschossen wurde. Der gebürtige Westukrainer kommt zu dem Schluss, dass Schützen unter »falscher Flagge« aus dem Konservatorium, dem Gewerkschaftshaus, dem Hotel »Ukraina« und anderen Gebäuden auf Demonstranten und Polizisten schossen, um den Vorwand für einen Machtwechsel zu geben. Der Wissenschaftler will über Hinweise verfügen, dass die Schützen zum Rechten Sektor gehörten.

Michail Abroskin, Vater des Berkut-Polizisten Pawel Abroskin, meinte gegenüber der Internetzeitung »strana.ua«, dass das Verfahren künstlich in die Länge gezogen werde. Mit den Beweisen sieht es bisher sehr dünn aus. Die Internetzeitung berichtet, dass bei 45 von 48 ballistischen Untersuchungen der Geschosse, die gegen Demonstranten verwendet wurden, nicht festgestellt werden konnte, ob sie aus der Waffe eines Berkut-Polizisten stammten.

Faktisch hat sich in der Ukraine mit dem Rechten Sektor, dem Asow-Bataillon und anderen rechtsradikalen Gruppieren neben Parlament, Justiz, Polizei und Medien eine fünfte Macht etabliert, die offenbar vom ukrainischen Geheimdienst SBU gedeckt wird. Illegale Aktionen der Ultranationalisten bleiben in der Regel ungestraft. Es scheint, dass die Ultranationalisten immer dann aktiv werden, wenn der Regierung in Kiew, die unter strenger Beobachtung westlicher Geldgeber steht, die Hände gebunden sind.

Man erinnert sich an den August 2015. Als das ukrainische Parlament eine Verfassungsänderung beschloss, welche eine Dezentralisierung der Ukraine möglich macht, demonstrierten vor dem Parlamentsgebäude die Partei Swoboda und der Rechte Sektor. Aus den Reihen der Demonstranten flog eine Granate auf die Nationalgardisten. Vier Nationalgardisten starben, 141 Menschen wurden verletzt. Der brutalen Tat verdächtigt werden Igor Gumenjuk und Sergej Krajnjak, beide Anhänger der rechtsradikalen Partei Swoboda. Sie wurden bisher nicht verurteilt.

Weitere im Minsker Abkommen festgelegte gesetzliche Bestimmungen, die - als Kompromiss mit den Separatisten - Wahlen in Donezk und Lugansk möglich machen sollen, sind seitdem in der Rada nicht mehr verhandelt worden.

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