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Marburg: Als ein Drittel der Stadträte Nazis waren

Die hessische Universitätsstadt hat die Rolle ihrer Nachkriegspolitiker im Dritten Reich untersucht

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.

Erst 72 Jahre nach dem NS-Regime findet in der hessischen Universitätsstadt Marburg eine schonungslose Aufarbeitung der Geschichte statt. Seit einigen Wochen liegen nun zwei Studien vor, die ein Historikerteam um den renommierten Professor Eckart Conze erarbeitet hat und die sich unter anderem mit der Rolle ranghoher Nachkriegspolitiker im Dritten Reich befassen. Den Anstoß hatte ein 2013 im Stadtparlament angenommener Antrag der örtlichen Linksfraktion gegeben.

Die Ergebnisse lassen nun aufhorchen. Sie widerlegen den auch in Marburg mit seiner in der alten Bundesrepublik als links geltenden Universität so lange kultivierten Mythos von einer »Stunde Null« und einem Neuaufbau mit unbefleckten Demokraten: So waren von 176 Nachkriegsstadtverordneten der Jahrgänge bis 1928, die für eine Mitgliedschaft in der NSDAP in Frage kamen, 54 tatsächlich in der Nazipartei. Das entspricht 30,6 Prozent und liegt deutlich über den Anteilen von Ex-NSDAP-Mitgliedern in den bislang untersuchten Landesparlamenten von Hessen, Niedersachsen, Bremen und dem Saarland. Einzig Schleswig-Holstein sei hier »absoluter Ausreißer« und verzeichne einen noch höheren Wert als Marburg.

In der Wahlperiode 1952 bis 1956 waren 13 von 39 Marburger Stadtverordneten Ex-Nazis. Auf dem Höhepunkt von 1960 bis 1964 betrug ihr Anteil 17 von 48, also 35 Prozent. Bei der CDU-Fraktion waren es sogar 46 Prozent. Der Wert sank dann altersbedingt. Doch erst seit den 1980er Jahren saßen keine Ex-NSDAP-Mitglieder mehr im Stadtparlament.

Zu den markantesten Gesichtern der Marburger NS-Herrschaft zählt der ehemalige Bürgermeister und Oberbürgermeister Walter Voß, der bereits im Frühjahr 1933 die Ausschaltung der Arbeiterparteien vor Ort mit organisierte. So landeten engagierte SPD-Mitglieder wie August Eckel, Justus Bötzel und Georg Gaßmann sowie Kommunisten wie Theodor Abel, Oskar Geiler, Heinrich Schneider und Gustav Schmidt in »Schutzhaft«. Wie viele stark belastete Ex-Nazis wurde Voß später im Rahmen der »Entnazifizierung« unter Verweis auf seinen angeblichen Einsatz für die kampflose Übergabe der Stadt an die US-Armee als »Mitläufer« entlastet.

Auch FDP-Mann Karl-Theodor Bleek, Oberbürgermeister 1946 bis 1951, im Entnazifizierungsverfahren nach dem Ende der NS-Diktatur seine frühere NS-Mitgliedschaft verschwiegen und damit seine steile politische Karriere in der Nachkriegs-BRD begünstigt. Er war von 1946 bis 1951 Marburger Oberbürgermeister und gleichzeitig FDP-Landtagsabgeordneter. Von 1951 bis 1957 war er Staatssekretär im Bundesinnenministerium, von 1957 bis 1961 Chef Bundespräsidialamtes. Dann leitete er die »Studienstiftung des deutschen Volkes«, die Stipendien an den akademischen Nachwuchs vergibt.

Nicht ausreichend untersucht ist Bleeks Rolle als Stadtkämmerer in Breslau ab 1940. »Es scheint undenkbar, dass er in dieser Funktion bei der Verfolgung und Ausraubung der jüdischen Gemeinde schuldlos geblieben ist«, sagt der Marburger Stadtverordnete Henning Köster (LINKE), der Konsequenzen aus den neuen Erkenntnissen fordert. »Die Reinwaschung verantwortlicher Förderer und Helfer des verbrecherischen NS-Regimes wie Voß ist zu korrigieren«.

Seine Fraktion hat nun im Stadtparlament beantragt, Voß die 1960 verliehene Verdienstmedaille abzuerkennen und eine Straße umzubenennen, die seit 1958 seinen Namen trägt.

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