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Ein Leben auf Papier

»Nachlese«: Die Hinterlassenschaft des Berliner Publizisten, Filmhistorikers und Ausstellungskurators Gerhard Schoenberner

  • Erich Hackl
  • Lesedauer: 6 Min.

Unweigerlich liest man diesen Band, der »Texte zu Politik und Kultur« aus 66 Jahren versammelt, mit Trauer und Freude. Mit Freude, weil auf Gerhard Schoenberner zutrifft, was er selbst über den Theaterkritiker Herbert Ihering geschrieben hat: »Nie wurde eine Aussage an die Pointe verraten, der eleganten Formulierung wurde die genaue vorgezogen. Nicht das Wortspiel, das Argument bestimmte seinen Stil, die Klarheit des Gedankens gab seinen Sätzen Treffsicherheit.« Mit Trauer, weil einem noch einmal bewusst wird, dass der vor vier Jahren verstorbene Berliner Publizist in seiner Klugheit, Vielseitigkeit und Hilfsbereitschaft unersetzbar ist.

Schoenberner, 1931 in Neudamm, heute Dębno, in einer Pastorenfamilie geboren, deren »Freundlichkeit zu den Ausgestoßenen« ihn gegen die Verlockungen der NS-Volksgemeinschaft immunisierte, studierte nach dem Abitur Politische Wissenschaften in Berlin und war von 1950 bis 1956 im Sozialistischen Deutschen Studentenbund aktiv. In zahlreichen Kommentaren und Aufsätzen wandte er sich gegen die deutsche Wiederbewaffnung, das KPD-Verbot, den Einfluss der Vertriebenenverbände und die Präsenz hochrangiger Nazis in Regierungsämtern, Direktionsetagen und Richterroben. Als 1960 die gerade erst eingeweihte Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen beschmiert wurde, kritisierte er die Verlautbarungen offizieller Stellen zum Vorfall, weil sie »sich die Empörung, die sie zeigten, bereits als demokratisches Alibi zugute« hielten, und stimmte Alexander Mitscherlichs These zu, dass der Antikommunismus in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend die Funktion des Antisemitismus übernommen habe. Vermutlich waren es solche und andere Ketzereien, die dazu führten, dass Schoenberner, seit seinem 15. Lebensjahr Mitglied der SPD, später auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes, aus deren Listen gestrichen wurde, ohne dass ihm dies je mitgeteilt wurde. 1960 war auch das Jahr, in dem sein erstes, bis heute immer wieder aufgelegtes Buch erschien, »Der gelbe Stern«, in dem er die Judenverfolgung 1933-1945 in Text und Bild dokumentierte.

Zwei gedenkpolitische Projekte wären ohne Schoenberners Hartnäckigkeit kaum realisiert worden. Das eine war sein Bestreben, die Villa am Wannsee, in der am 20. Januar 1942 fünfzehn Regierungsvertreter und leitende Beamte der SS den Genozid an den europäischen Juden organisiert hatten, als Dokumentationszentrum der NS-Verbrechen einzurichten. Die Idee hierfür stammte von dem Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf, der sich gegen das geballte Desinteresse der zuständigen politischen Stellen nicht durchsetzen konnte. Bezeichnend, weil es uns an die inzwischen widerrufene Ankündigung des aktuellen österreichischen Innenministers Wolfgang Sobotka erinnert, Hitlers Geburtshaus in Braunau abtragen zu lassen - und an den Vorschlag der von Sobotka eingesetzten Expertenkommission, das Haus so umzubauen, dass sein Originalzustand nicht mehr zu erkennen sei -, symptomatisch also ist die Äußerung des damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier zur Initiative, die Wannseevilla im Sinne Wulfs zu nutzen. »Da kommt nur eins in Frage«, meinte Gerstenmaier 1966, »nämlich das Haus abzureißen, so daß keine Spur von dieser Schreckensstätte übrig bleibt.«

Diesem ehemaligen Mitglied der Bekennenden Kirche, der wie der österreichische Minister heute dem Glauben anhing, dass mit den architektonischen Symbolen des Nazismus auch dessen Ungeist verschwinden werde, sollte Schoenberner siebzehn Jahre später noch einmal begegnen, in der Jury für das Berliner Gestapo-Gelände. Gerstenmaier 1983: »Wen interessiert denn heute noch der Reichsheini? Mein Vorschlag: Gänseblümchen pflanzen!«

Gegen welche Widerstände der von Schoenberner mitbegründete Verein »Aktives Museum« ankämpfen musste, bis nach Jahren endlich der Erinnerungsort »Topographie des Terrors« entstand, das lässt sich hier nachlesen. Nachlesen auch, im Abschnitt »Biografisches«, ein kurzes Prosastück, undatiert, in dem Schoenberner beschreibt, wie er Einsicht in seine Akte nimmt. Souterrain, kahler Raum, Rollschränke an den Wänden, in der Mitte ein Tisch. Im Aktendeckel, der ihm gereicht wird, chronologisch geordnet die Dokumente der Bespitzelung: diverse Meldezettel, ein Flugblatt mit dem Aufruf zum ersten Ostermarsch. Im Geist registriert der Autor, was alles fehlt: die anderen Ostermarschaufrufe, Jahr für Jahr, seine öffentlichen Erklärungen zum KPD-Verbot, zum Vietnamkrieg, zur Berliner Mauer. Dann ein weißes Blatt mit dem Vermerk: »S.17-35 entnommen.« Es handle sich hierbei, so die Beamten, um Erkenntnisse anderer Dienste, zu deren Herausgabe sie nicht berechtigt seien. Stasiakte? Nein: bundesdeutscher Verfassungsschutz.

Zur DDR hatte Schoenberner ein gespaltenes Verhältnis, was ihn an sich schon, hüben wie drüben, verdächtig machte. Die hegemoniale These von der »zweiten deutschen Diktatur« hielt er schon immer für falsch. Ihm imponierten der antifaschistische Grundkonsens der Gründerjahre, die Einladung zur Rückkehr an die Vertriebenen, Vielfalt und Lebendigkeit des künstlerischen Schaffens. In den DEFA-Filmen sei der Genozid am jüdischen Volk, seien auch die zahlreichen anderen Verbrechen, die das Naziregime in Deutschland und in den besetzten Ländern Europas beging, mit einer unerbittlichen Wahrheitsliebe geschildert worden, die man im westdeutschen Film lange Zeit vergeblich gesucht habe. In seiner Berliner Universitätsrede 1983 analysierte er die bis weit in die 60er Jahre hinein vorherrschende Tendenz in der BRD, Nazipolitik und ihre kriegerischen Folgen als schicksalhaft darzustellen, und erinnerte daran, dass ausländische Filme wie Rossellinis »Rom, offene Stadt«, De Sicas »Die Eingeschlossenen von Altona« und Resnais’ »Nacht und Nebel« verboten, zensiert oder als »antideutsch« verteufelt worden waren.

An der westdeutschen »Vergangenheitsbewältigung« störte ihn, abgesehen von der immensen Selbstzufriedenheit der Bewältiger, dass sie die Schuld der oberen Schichten verschwieg, Nationalsozialismus mit Stalinismus gleichsetzte, was von revisionistischen Historikern dazu genutzt wurde, in einer nochmaligen Volte Hitlers Vernichtungsfeldzug als Defensivmaßnahme gegen den Bolschewismus - und, folgerichtig, den Holocaust als eine Art Kollateralschaden - hinzustellen, sowie die schon erwähnte Aufteilung und Hierarchisierung des Gedenkens, in dem über 25 Millionen Sowjetbürger, die dem deutschen Vernichtungsfeldzug zum Opfer gefallen waren, keinen Platz fanden.

Träume, Briefe, Vorträge, Leserbriefe, Reiseberichte, Kindheitserinnerungen, ein paar übermütige Prosagedichte ... So unterschiedlich die literarischen Mittel sind, derer er sich bedient, so originell ist der Zugang, entschieden die Haltung, verbindlich der Ton. Verblüffend seine Beständigkeit. Eindeutig verfügte Schoenberner schon als Zwanzigjähriger über die Gabe der Vernunft und erhielt sich bis zuletzt den Schwung der Jugend.

Immer wieder kam er zwischen allen Stühlen zu sitzen. Er kritisierte die jähe Liebe mancher Intellektueller zu serbischen Kriegsverbrechern ebenso wie die deutschen Waffenlieferungen an die Türkei, verteidigte Günter Grass gegen den Vorwurf des Antisemitismus und betrachtete »Die Erfindung des Anti-Amerikanismus« als ein billiges Mittel, um Kritik an völkerrechtswidrigen Praktiken abzuschmettern. Für die Berliner Käthe-Niederkirchner-Straße, benannt nach einer im KZ Ravensbrück ermordeten Kommunistin, konnte er sich einen Namenszusatz vorstellen, zum Gedenken an ihren Bruder Paul, der 1938 in Moskau umgekommen war.

Ich bin Gerhard Schoenberner nie begegnet, habe aber einmal aus der Effizienz seines Handelns Nutzen gezogen. Es ging damals, 1992, um den kubanischen Übersetzer Jorge Pomar, der als Regimekritiker zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Als Delegierter des Writers in Prison Committee half Schoenberner, den Fall öffentlich zu machen, was Pomars Haftbedingungen erheblich verbesserte. Anderthalb Jahre später gab er mir Nachricht vom Ableben seines Schwiegervaters, des jugoslawischen Schriftstellers Oto Bihalji-Merin, mit dem ich lange zuvor korrespondiert hatte. Dem Schreiben lag ein Foto bei, auf dem der greise Bihalji den Arm zärtlich um seine Frau Lise gelegt hat. »Er lebte sein Leben nicht ohne Angst, aber ohne Feigheit«, heißt es im Nachruf, »voller Hoffnungen, aber ohne Illusionen. Seinen Traum von einer humanen Welt blieb er treu und versuchte, ihn auch im Alltag zu verwirklichen.« Mir scheint, dass diese Worte auch auf Gerhard Schoenberner zutreffen, und der Hinweis, dass Oto Bihalji »ohne seine geliebte Lise«, die vor ihm gestorben war, sehr einsam gewesen sei, auf Mira Schoenberner.

Gerhard Schoenberner: Nachlese. Texte zu Politik und Kultur. Argument Verlag, Hamburg 2016, 600 S., 29 €. Der Autor ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt in Österreich.

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