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Auf dem Land spielt die Musik

Wie Bürgermeister Andreas Brohm in Tangerhütte den Altmark-Blues vertreibt

  • Hendrik Lasch, Tangerhütte
  • Lesedauer: 9 Min.

Vielleicht war es ja ein Vorzeichen. Das Musical, mit dem Andreas Brohm sechs Jahre lang als Manager durch die Lande tingelte, hieß »We will rock you« - und nicht »Blues Brothers«. Brohm ist ein Mann, der lieber einen forschen, fröhlichen Beat anschlägt als schleppende Rhythmen voll lastender Schwermut. Das war so auf den Bühnen zwischen Zürich, Köln und Berlin, und der Drive ist ihm auch im Rathaus von Tangerhütte bislang nicht verloren gegangen.

Dabei liegt Tangerhütte eigentlich im Blues-Land. Nördliches Sachsen-Anhalt, südliche Altmark, eine halbe Stunde mit der Regionalbahn hinter Magdeburg. Vorm Zugfenster: weite Felder, lange Reihen knorriger Bäume, verschlafene Dörfer. Der Städter seufzt: Idylle! Einheimische stöhnen: Nichts los hier. Zu wenig Jobs, zu wenig Jugend, zu wenig Leben. Der »Altmark-Blues« ist inzwischen sprichwörtlich: das resignierte Lebensgefühl einer Region, mit der es bergab zu gehen scheint. Von 2008 bis 2025, sagte das Statistische Landesamt voraus, werde die Einwohnerzahl um 25 Prozent sinken. Dabei wohnt hier schon jetzt kaum jemand: Tangerhütte mit seinen 30 weit verstreuten Ortsteilen hat zwar mit 295 Quadratkilometern mehr Fläche als Frankfurt (Main), aber nur ein Zweiundsechzigstel der Einwohnerzahl: exakt 11 005, Tendenz fallend.

Mancher aber kommt zurück. Zum Beispiel Brohm. Geboren 1979 in Tangerhütte, Abi am Altmärkischen Gymnasium, das freilich inzwischen aufgelöst ist. Danach Abflug in die weite Welt: mit der »West Side Story« auf Tournee durch halb Europa, Wohnung im brodelnden, hippen Berlin. Jetzt, mit nicht einmal 40, lebt er mit Frau und zwei Kindern in einem Nest mit 88 Einwohnern und ist Chef im Rathaus von Tangerhütte. Ein hübscher Bau aus Backstein, zugegeben; aber auf der Straße davor: kaum jemand unterwegs. »Als Großstadtindianer in die Pampa«, wie Brohm es selbst formuliert. Und warum, in aller Welt? Zum einen habe er nach der Zeit im Showgeschäft »etwas machen wollen, was bleibt«, sagt er. Und außerdem sei er überzeugt, dass man »hier mehr daraus machen kann«. Dem ländlichen Raum »gehört die Zukunft«, hat er anderswo formuliert: »Nur weiß das kaum jemand. Noch!« Jetzt kann er die Kunde verbreiten. Im Jahr 2014, nachdem der Stadtrat von Tangerhütte die vorige Bürgermeisterin in die Wüste geschickt hatte, kandidierte er für die Nachfolge - und wurde mit knapp 73 Prozent gewählt.

Brohm ist gewiss kein Landlust-Nostalgiker, für den die Erfüllung darin besteht, mit einer selbst gedengelten Sense meditativ Heu zu machen. »Das Dorfleben wird anders sein als früher«, sagt er. Dass es aber stattfinden wird, davon ist er überzeugt. Den Unkenrufen vom sterbenden ländlichen Raum hält er eigene Beobachtungen entgegen: Städter, die vor explodierenden Mieten flüchten; Firmengründer, die preiswerte Büros suchen; Eltern, die ihre Kinder nicht ausschließlich zwischen Autolawinen aufwachsen lassen wollen. In der Altmark gibt es all das nicht, dafür Ruhe und Weite, bezahlbare Häuser und Gewerbeimmobilien, Platz zum Spielen im Überfluss. Manch Einheimischer empfinde das zwar womöglich nicht als Vorzug, sagt er; von außen aber »sieht man: Es ist alles da!«

Fast alles. Denn tatsächlich gibt es Ecken, wo der Hund begraben liegt. Zu erkennen sind sie daran, dass Computer und Handy kein Netz finden. Eine gute Internetanbindung, sagt Brohm, ist heute die Lebensader eines Dorfes und »wichtiger als ein Autobahnanschluss«. Wer schnelles Netz hat, kann mit jedermann an jedem Ort kommunizieren, Aufträge abwickeln, Einkäufe tätigen, Behördengänge erledigen. Natürlich ist es auch für Dorfbewohner wichtig, einen Lebensmittelladen in der Nähe zu haben. Natürlich muss die Gießerei Tangerhütte, deren Gründung im Jahr 1842 für rasanten wirtschaftlichen Aufschwung in der Stadt sorgte und die heute Turbinenteile bis nach China liefert, per Tieflader zu erreichen sein. Brohm kennt aber auch einen Unternehmer in seinem Ort, der mit Tee handelt - über das Internet. Und für Kunden, die ihrerseits immer mehr Einkäufe im Netz tätigen, sei es »egal, ob sie dabei in Berlin oder Tangerhütte auf dem Sofa sitzen«.

Also legt Brohm sich ins Zeug. Er redet bei Konferenzen zur digitalen Entwicklung der Politik ins Gewissen, die das Thema zu halbherzig angeht; er kritisiert den magentafarbenen Platzhirsch, der in der Region zwar Leitungen verlegt, aber viele Orte dabei links liegen lässt; und er drängt darauf, nicht nur Anschlüsse zu schaffen, die schon bald wieder wie Oldtimer wirken: »Man muss auch hier mit einem Gigabit surfen können!« Außerdem nimmt er die Sache mit Bürgermeisterkollegen selbst in die Hand. Sie haben in der Altmark einen Zweckverband gegründet, der flächendeckend zumindest die Röhren verlegen will, in die einzelne Anbieter dann ihr Kabel schieben können. 120 Millionen Euro nehmen sie dafür in die Hand. Eine schnelle Leitung sei »die Kardinalfrage« für den ländlichen Raum, sagt Brohm: »Wenn jeder Ort Breitband hat, wird es keine sterbenden Dörfer geben.«

Das Internet ist eines von Brohms großen Themen; ein zweites lautet: Integration. Brohm will Zuwanderer anziehen und zum Bleiben bewegen. Er kennt zwar viele, die wie er hier geboren sind, eine Zeit lang unterwegs waren und nun zurückkommen. Er weiß aber auch, dass das nicht reicht, um den demografischen Trend umzukehren. 180 Menschen starben im vorigen Jahr in Tangerhütte, nur 63 wurden geboren. »Wir brauchen Zuzug, egal von wem, egal woher«, sagt er.

Als im Jahr 2015 viele Unterkünfte für Flüchtlinge gesucht wurden, hob Brohm deshalb nicht die Hände; vielmehr warb er offensiv dafür, dass Tangerhütte die Arme öffnete. Das Kalkül ist nüchtern: Mieteinnahmen für die Wohnungen für Asylbewerber helfen der kommunalen Wohnungsgesellschaft. Kitas und Schulen sind besser ausgelastet - und mancher der Zuzügler bleibt vielleicht für immer. Also wurde im Ort ein »Netzwerk neuer Nachbar« gegründet, das Kontakte zwischen Einheimischen und Zuwanderern stiftete; es gab Patenschaften und gemeinsame Stadtspaziergänge; man lud afghanische Familien sogar ein, Kleingärten zu bewirtschaften. Solche Aktionen helfen nicht nur, Ressentiments klein zu halten; sie sorgen womöglich auch dafür, dass mancher der Flüchtlinge den Aufenthalt in Tangerhütte nicht nur als Zwischenstation begreift. »Wir können nur werben und hoffen, dass jemand bei uns bleiben will«, sagt Brohm - in diesem Fall mit der Möglichkeit, Melonen anzubauen.

Es sind solche unorthodoxen, um nicht zu sagen nassforschen Initiativen, mit denen Brohm immer wieder für Schlagzeilen sorgt - und zugleich für skeptische Blicke und gerunzelte Stirnen bei manchem in Rat und Rathaus. Als er sein Amt frisch angetreten hatte, schrieb das sachsen-anhaltische Digitalmagazin »Server« über den neuen Rathauschef, er habe »null Ahnung von Verwaltung«, sei jedoch »randvoll mit Visionen, Tatendrang und Ideen«. Nach drei Jahren hat er davon immer noch genug, auch wenn er inzwischen festgestellt hat, dass der Job als Bürgermeister andere Strategien erfordert als der eines Musicalmanagers. Der erhalte ein Budget und die Vorgabe: »Mach mal!« Als Bürgermeister in Tangerhütte dagegen müsse er »das gute Miteinander« mit Stadträten und den 30 Verwaltungsangestellten pflegen, Diplomat sein, werben, umgarnen. Hat er nicht die Mehrheit der 26 Stadträte hinter sich, nützt die schönste Idee nichts. Und mancher von diesen will sehr genau wissen, warum der Bürgermeister auf einer Touristikmesse in Berlin reden zu müssen meint, statt sich in seiner Amtsstube um den Etat zu kümmern. Der wiederum hält die Finanzen der Gemeinde zwar für wichtig; genauso wichtig sei es aber, pfiffige Ideen auszubrüten - und bekannt zu machen: »Was der Bürgermeister an Werbung nicht selbst macht«, hat er einmal gesagt, »das bleibt liegen.«

Bei Brohm bleibt nichts liegen; er spielt virtuos auf der Klaviatur modernen Marketings. Es dürfte wenige Bürgermeister geben, die so rege in sozialen Netzwerken aktiv sind. Zwar bestätigt sich der frühere Eindruck eines Journalisten nicht, dass ein Gespräch mit Brohm permanent vom Stakkato der Nachrichten unterbrochen wird, die auf seinem Handy eingehen. Es vergeht aber auch kein Tag, an dem er nicht auf Facebook oder Twitter idyllische Fotos aus seinem Ort postet, über das Landleben, Wegzug und Wiederkehr sinniert, Kritisches zur digitalen Agenda anmerkt. Oder schlicht mitteilt, was sie sich gerade wieder ausgedacht haben in der Altmark und in Tangerhütte, um der Region den Blues auszutreiben.

Zum Beispiel: das »Altmark-Macher-Festival«. Schon jetzt gebe es in der Region viele Menschen, die Dinge selbst in die Hand nehmen, Ideen entwickeln und Dinge auf die Beine stellen. Nur: Viele wissen nicht voneinander. Sie sollen einander kennenlernen und Rückenwind erhalten, Kontakte knüpfen und sich austauschen. Also wurde eine Art Kreativitätsbörse im Schloss von Tangermünde ausgerichtet, einem Prunkbau, den der zu großem Wohlstand gelangte Gründer der örtlichen Eisenhütte im Jahr 1873 erbaute. Bald wird es eine Neuauflage geben. Ebenfalls fortgesetzt wird im Schloss demnächst das von Brohm angeregte, gemeinsam mit Vereinen ausgerichtete »Bürgercafé«, das für Leben in dem leer stehenden Gebäude sorgen und die Einwohner zum Engagement für das Schloss und dessen weitläufigen Park anspornen soll. Der wird vom Land Sachsen-Anhalt zu dessen »Gartenträumen« gerechnet, wirkt aber bislang eher wie in einem Dornröschenschlaf gefangen.

Es sind Aktivitäten, wie es sie andernorts vielleicht auch gibt; nur wissen dort allenfalls die Leser der Kreiszeitung davon. Brohm aber berichtet davon auf Twitter & Co. - was sich auszahlt. Über die kleingärtnernden Flüchtlinge berichteten der MDR und ein großes Nachrichtenmagazin, und als Tangerhütte an einem Projekt namens »Luxus der Leere« teilnahm, bei dem für ungenutzte Immobilien auf dem Land neue Nutzer gesucht werden, wurden sogar Korrespondenten aus dem Ausland aufmerksam.

Dem Bürgermeister ist das mehr als recht. Er will die Vorzüge des Landlebens im Allgemeinen und des Lebens in Tangerhütte im Besonderen bekannter machen in der Welt. Oder, für den Anfang, in Hannover, Hamburg und Berlin. So manchen von Brohms dortigen Ex-Nachbarn zog es auf der Flucht vor dem Großstadtgewimmel in die brandenburgische Uckermark. Die Altmark ist dank Autobahn und ICE-Trasse von der Bundeshauptstadt aus fast besser zu erreichen, aber sie ist leider »nicht so hip«, sagt der Bürgermeister. Was er tun kann, um das zu ändern, das tut er. Weite Kreise im Internet zieht derzeit zum Beispiel die Einladung an Blogger, die Region zu bereisen, kennen zu lernen und darüber zu berichten. Es dürfte nicht nur darum gehen, Touristen aufmerksam zu machen, sondern junge Familien und Kreative, von denen vielleicht manche in der Großstadt nicht mehr ganz glücklich sind und die sich mit dem Gedanken anfreunden könnten, in der Altmark ihr Auskommen zu finden. In einer Region, die - wie es in der Einladung zur Reise heißt - »Entschleunigung, Backsteingotik, Herrenhäuser, Flusslandschaften und grüne Wiese zu bieten« hat. Und in einer Gegend, in der nach Andreas Brohms fester Überzeugung die Musik spielt. Vorausgesetzt, das Internet macht mit.

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