Zuerst zeigte ich ihm einen Vogel
Wie mir ein elfjähriger Sachse meinen weiteren Lebensweg zeigte. Von Helmuth Hellge
Nein, von den vier Tätigkeiten, die ich nach meiner Schulentlassung ausübte, wollte ich für den Rest meiner Lebensarbeitszeit keine beibehalten. Zunächst hoffte mein Vater, er könne mich für seinen Beruf als Elektro-Installateur begeistern. Aber nach einjähriger Lehrzeit zeigte es sich, dass ich für diese Tätigkeit keinerlei Begabung hatte. Auf Wunsch meiner Eltern begann ich dann eine Lehre in einem kaufmännischen Beruf, die ich auch tatsächlich regulär beendete. Doch schon einen Tag nach der letzten Prüfung wartet eine neue ungeliebte Tätigkeit auf mich. Ich wurde Soldat und musste mich am 1. Oktober 1941 in der Kaserne der Flak-Ersatz-Abteilung 12 in Berlin-Lankwitz einfinden.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges nahmen mich die Amis in Kriebitzsch, wo ich in einer Eisenbahn-Flak-Batterie als Schreiber meinen Militärdienst versah, gefangen und internierten mich in einem der Lager auf den Rheinwiesen. Von dort kehrte ich später nach Kriebitzsch zurück, wo meine junge Frau - wir hatten im Mai 1944 in Berlin geheiratet und sie war mir nach Kriebitzsch gefolgt - inzwischen eine Arbeit als Gutssekretärin aufgenommen hatte. Sie stellte mich und weitere Kameraden der ehemaligen Flak-Batterie als Landarbeiter auf dem Gutshof ein.
Meine Tätigkeit bestand vor allem darin, allmorgendlich den Ochsen Hans vor einem Leiterwagen anzuschirren, auf ein Getreidefeld zu fahren, die dort lagernden Strohballen von anderen Landarbeitern auf den Wagen werfen zu lassen und das Gefährt zurück zum Gutshof zu bringen.
In den Sommerferien hatte sich mir ein etwa elfjähriger Junge angeschlossen, der von seinem Altersgefährten im Dorf »Leip’zcher« gerufen wurde. Seine Eltern und er waren während des Krieges in Leipzig ausgebombt worden und hatten in Kriebitzsch ein Unterkommen gefunden. Wenn er mit mir sprach, sagte er - wie alle im Dorf - zu mir »du, Berliner«.
Auch in den Herbstferien begleitete mich der »Leip’zcher« Tag für Tag aufs Rübenfeld, wo die Zuckerrüben aufgeladen und zur Verladerampe des Bahnhofs Kriebitzsch gefahren werden mussten.
Eines Tages schaute er mich an und stellte mir völlig überraschend die Frage: »Du, Berliner, willst du denn diese Arbeit ewig machen?« Ich fragte zurück: »Weißt du was Besseres?« Da erzählte er mir, dass er gestern in der Zeitung eine Anzeige gelesen habe, wonach in der Kreisstadt Altenburg junge Leute zur Ausbildung als Neulehrer gesucht würden. Ich war zunächst sprachlos. Einmal deshalb, weil sich dieser Knirps offenbar Gedanken über meine Zukunft gemacht hatte. Dann aber auch über den Inhalt seiner Gedanken. Ich erinnerte mich, dass ich zu meiner Schulzeit ein eher mittelmäßiger Schüler war. Nur in Deutsch, Erdkunde, Religion und Turnen stand regelmäßig eine 2 auf dem Zeugnis. Sonst ständig »dicke Dreien«, wie mein Vater oft vorwurfsvoll meinte. Aber, obwohl ich dem »Leip’zcher« zunächst einen Vogel zeigte, dachte ich doch über diese überraschende Anregung nach …
Abends sprach ich mit meiner Frau darüber, schaffte es, dass mir die Gutssekretärin einen Tag freigab und fuhr nach Altenburg. Im Schulamt trug ich mich in die Liste der Bewerber zur Ausbildung als Neulehrer ein. Tage später erhielt ich eine Einladung zu einem Wochenlehrgang an der Pädagogischen Fachschule der Kreisstadt. In dem Zimmer, das für mich und andere als Schlaf- und Studierzimmer dienen sollte, stand auch eine Wandtafel. Ein Witzbold hatte darauf mit Kreide das Geäst eines Baumes gezeichnet, worin ein Frosch hockte. Daneben stand der Wilhelm-Busch-Vers: »Wenn einer, der mit Mühe kaum gekrochen ist auf einen Baum, schon meint, dass er ein Vogel wär, so irrt sich der.« Ich habe mich aber von diesem Orakel nicht entmutigen lassen.
Als ich dann am 2. Januar 1946 an der Grundschule in Kriebitzsch zum ersten Mal als Lehrer den Klassenraum der mir zugewiesenen 5. Klasse betrat - wer saß da in der ersten Bankreihe grinsend vor mir? Mein Weichensteller fürs Leben, der »Leip‘zcher« ...
P.S. Der Leip’zcher beendete sein Berufsleben als Major in einer NVA-Flugzeug-Staffel, ist inzwischen 83 Jahre alt, und ruft mich noch immer zu besonderen Anlässen, wie meinem Geburtstag oder unserem Hochzeitstag an.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.