Wir müssen über Geschlechtergerechtigkeit reden

Theatertreffen-Jurymitglied Christian Rakow über Auswahlkriterien, den Abschied alter Schlachtrösser und eine Frauenquote für die Regiestühle

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 4 Min.

Herr Rakow, warum hat es in die 10er-Auswahl zum aktuellen Berliner Theatertreffen im Bereich der Regie mit Claudia Bauer (»89/90«) nur eine einzige Frau geschafft?
Damit sind wir überhaupt nicht glücklich, und ich gestehe ein, dass die Auswahl in dieser Hinsicht diesmal nicht optimal ist. Beim Theatertreffen gibt es aber keinen vorab festgelegten Tableauanspruch mit entsprechendem Kriterienkatalog. Darin unterscheiden wir uns von kuratierten Festivals, die ausgewogener an eine Auswahl herangehen müssen. Das betrifft die Frage von großen und kleinen Bühnen, etablierten Namen und Newcomern und eben die Geschlechterfrage. Bei uns in der Jury diskutieren wir über inhaltliche Interpretationsmöglichkeiten und formale Aspekte einzelner Arbeiten aus der Perspektive des Publikums.

Dennoch könnte der Eindruck entstehen, die Regiearbeit von Frauen sei generell schlechter als die von Männern.
Das wäre natürlich ein völlig falscher Eindruck. Man muss aber auf das strukturelle Problem schauen. Es gibt im Theaterbetrieb viele Regisseurinnen unter 30 Jahren, jenseits dieser Altersstufe verdünnt sich das Tableau dann wie bei einem Trichter. Bei unserem Internetportal »nachtkritik.de« haben wir jüngst noch einmal ausgezählt: Von den gut 250 Premieren, die wir aus dem deutschsprachigen Raum in einem Monat hätten besprechen können, lag die Anzahl der Regisseurinnen bei lediglich 30 Prozent, wobei die Frauen oft auf Nebenbühnen zum Zuge kommen. An den großen Häusern in Metropolen wie Berlin ist der Frauenanteil teilweise noch geringer. Dass wir in diesem Jahr nur eine Regisseurin dabei haben, sollte Anlass sein, wieder verstärkt über die Geschlechterungerechtigkeit am Theater zu reden.

Christian Rakow

Christian Rakow ist Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. Der 1976 in Rostock geborene Kritiker studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte zum Thema »Die Ökonomien des Realismus – Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850 – 1900«. Er arbeitet als Redakteur bei »nachtkritik.de« und schreibt zudem für »Theater heute« und die »Berliner Zeitung«. Mit ihm sprach nd-Redakteur Christian Baron. 

Wäre es nicht längst an der Zeit, über Quoten nachzudenken?
Das Fachmagazin »Theater heute« hatte zu dem Komplex 2011 die Titelgeschichte »Frauen an die Macht!«. Seither hat sich wenig geändert, scheint mir. Ich wäre offen für eine Regiequote. Allerdings muss so etwas auf breiter Basis erwogen werden. Nicht wenige Regisseurinnen wehren sich dagegen, durch Quotierungen gleichsam markiert zu werden.

Immerhin sind vier von sieben Plätzen der derzeitigen Jury des Theatertreffens mit Frauen besetzt. Wenn es da vor allem um ästhetische Fragen geht: Wie muss man sich die Debatten über die insgesamt 377 gesichteten Produktionen vorstellen?
Jeder Juror ist zuständig für einen bestimmten geographischen Bereich. Bei mir sind das Berlin und der ostdeutsche Raum. Man reist aber durchaus auch in andere Regionen, wenn Abende Aufsehen erregt haben und man sich ein eigenes Bild machen will. Zur Diskussion in der Jury kommt eine Inszenierung, wenn sie jemand in seinem schriftlichen Votum als herausragend beschreibt und also empfiehlt. In der Diskussion waren diesmal 38 Arbeiten. Logischerweise hat jede Jurorin und jeder Juror Vorlieben und damit fällt diese Diskussion teils dann auch sehr kontrovers aus.

Es ist gute Tradition beim Theatertreffen, nicht von den besten, sondern den bemerkenswertesten Produktionen zu sprechen. Was charakterisiert denn dieses Attribut?
Ästhetische Qualität lässt sich nicht kategorial beschreiben. Das Bemerkenswerte ist darum bewusst als dehnbarer Begriff gewählt, der eine Debatte zulässt und eben auch Kontroversen. Es gibt immer wieder Inszenierungen, die in der Jury stark umstritten sind, bei denen ab einem bestimmten Punkt aber womöglich genau darin das Besondere liegt: Dann wäre qualifizierte Streitbarkeit ein Moment des Bemerkenswerten.

Was macht für Sie persönlich eine Inszenierung bemerkenswert?
Ich finde Arbeiten spannend, die die Möglichkeiten des Theaters auf sein Extrem hin testen. Das muss nicht immer der komplette avantgardistische Durchbruch sein. Eine theatertreffentaugliche Inszenierung sollte aber abweichen von dem, was ich in meiner normalen Erwartung an das Theater als vertraut und standardisiert empfinde.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
»Die Räuber« vom Münchener Residenztheater in der Regie von Ulrich Rasche etwa. Schillers Text ist ein noch immer viel gespieltes dialogisches Drama. Nicolas Steman war mit seiner Inszenierung 2009 zum Theatertreffen eingeladen, in der er das Stück bereits in einen kollektiven Vortrag brachte. Mit Rasches Chortheater wird da ein neuer Schritt gesetzt, wenn hier das Kollektiv bildgewaltig in die Logik des Massenmenschen überführt wird. Das ist eine Radikalisierung der Theatersprache, die einen ganz neuen Blick auf diesen Klassiker und die in ihm verhandelte Institutionenkritik ermöglicht.

Klassiker im Theaterbetrieb sind auch Frank Castorf und Claus Peymann. Beide geben im Sommer ihre Intendantenposten ab. Der zum zweiten Mal in Folge zum Theatertreffen eingeladene 30-jährige Ersan Mondtag (»Die Vernichtung«) sagte kürzlich in einem Interview, er wolle bald die Berliner Schaubühne übernehmen. Vollzieht sich gerade eine Wachablösung?
Ich würde sagen, dass die schon seit ein paar Jahren im Gange ist. Beim Theatertreffen sind verstärkt Regisseure jüngeren und mittleren Alters dabei: Neben Ersan Mondtag zählen dazu auch Claudia Bauer, Kay Voges, Thom Luz, Milo Rau und Simon Stone. Das Theatertreffen funktioniert im Ganzen aber weniger als Entdeckerfestival. Es war ja zum Beispiel ziemlich grotesk, wie lange es dauerte, bis Christoph Schlingensief beim Theatertreffen auftauchte. Es ist eher eine Art verstärkende Instanz, die einem breiteren Publikum diejenigen bekannt macht, die sich bereits länger im Fokus des Theaterbetriebs befinden.

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