Teufel trifft Clown

Ulrich Schachts Roman »Notre Dame«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Liebe. Liebe ist am schwersten, wenn sie Nächstenliebe sein will. Übernächstenliebe ist einfach, Menschheitsliebe am einfachsten. Denn die Menschheit und was aus ihr werden möge, das passt mühelos in ein Herz - denk aber an einen einzigen Menschen deines Lebens, und das Herz bricht dir schneller, als du lieben kannst. Jeder Aufklärer, jeder Barrikadist schürt daher einen Verdacht, dem die Kunst seit Langem auf der Spur ist: Vielleicht sind die politisch Rigiden privat die Verklemmtesten, die tönenden Missionare die familiär Unglücklichsten, die streng Tugendreinen die intim Erlebnislosesten. Vielleicht, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls kommentieren wir mit gelöster Zunge und zustechendem Klarblick den planetarischen Zustand - und scheitern fortwährend am Geheimnis, das wir uns selber bleiben.

Liebe. Darüber hat Ulrich Schacht einen Roman geschrieben. »Notre Dame«. Das ist ein kathedraler Höchstgriff: Die Pariser Kirche als Ort, wo sich das Erhebende und die Schwerkraft kaum mehr voneinander unterscheiden lassen. Demut trifft aufs Entschweben. In Paris endet 1991, was zwei Jahre zuvor beginnt und über mehrere europäische Zwischenstationen führt. Reporter Torben Berg, verheiratet, eine Tochter, wird von seiner Hamburger Redaktion nach Leipzig geschickt, wo er die Studentin Rike kennenlernt. Es ist Ende 1989. Ein Wolf-Biermann-Konzert. Der Symbol-Sänger wieder im Osten! Aber seine Lieder »hatten ihre Zukunftsfarbe verloren«. Die friedliche Revolution freilich frappiert, »niemand steht an der Wand, keiner hängt an der Laterne. Neues Testament pur.«

Liebe. Das Schöne an ihr bleibt das Chaos, das sie stiftet - denn die Liebe geht tanzend auf den Strich, den sie durch die Rechnungen der Rationalisten macht. Der Leumund der Liebe küsst Menschen aus Feindbildern frei. Torben Berg, dem ein großzügiger Chefredakteur immer neue Recherche-Reisen nach Leipzig, in den aufgekratzt mauerfreien Osten gestattet, erlebt seine Leidenschaft zu Rike inmitten einer biografischen Erschütterungswelle: Er begegnet seiner eigenen Vergangenheit. Es ist die Vergangenheit des Autors. Schacht, Student der Theologie, war Anfang der siebziger Jahre wegen »staatsfeindlicher Hetze« ins Gefängnis geworfen wurden. Freikauf in den Westen. Dann diese unerwartete Implosion der Diktatur, jener Gorbatschow-Effekt, von dem es im Roman heißt: »Unser Glück sind jetzt die Russen, die wollen nicht mehr!«

Liebe. Torben Berg erfährt sie als Duell zwischen dem Teufel und dem Clown in ihm: Der Teufel weiß das Rezept, unbeschadet durch die moderne Welt zu kommen: »Du musst nur vergessen, lieben zu können.« Der Clown indes beharrt auf seinem Innigkeitsvermögen - und hat doch schon die ersten Buchstaben seines Namens unter den Vertrag mit dem Teufel gesetzt. Berg durchlebt seine Zerrissenheit zwischen Ordnung und Affäre, zwischen Bestand und Aufbruchsfeuer. Schreibt ein Brief-Tagebuch, adressiert an Rike. Es zählt zu den schönsten Passagen des Buches: Aufzeichnungen des Journalisten von einer Reise zu den Färöer Inseln. Farben, Namen, Klänge verfugen sich zu einem geografisch-mythischen Gewebe.

Immer wenn Schacht in seinen Büchern über den Norden der Welt schreibt, ist es eine Erzählung davon, wie der Mensch ins Leere greift und just dabei etwas festhält für sein Leben. Ja, man kann die Einsamkeit festhalten, als würde man eine Festgemeinde hereinbitten. Auch Torben Berg will, um gegen die Kälte zu leben, Kälte spüren. Er ist »an Politik interessiert, seit er denken konnte, an Polarländern anscheinend noch länger«. Bitte, sagt das Buch an dieser Färöer-Stelle, bitte einmal nicht den Fallschirm Zivilisation! Einmal, bitte, Wildnis ohne Reue! Als bräuchte der Mensch, um eine Ahnung von Glück und Freiheit zu ertasten, erst den Druck jener anderen, auch bitteren Ahnung: seiner Gefangenschaft in den unausweichlichen Gesetzen einer größeren Ordnung.

Liebe. Wer liebt, fragt nicht, ob dies erlaubt, günstig oder überhaupt möglich sei. Liebe bleibt in einem Sinne Krieg: Sie versucht, alles zu vernichten, was gegen sie spricht. Berg liebt Rike, und der allgemeine Freiheitsrausch nach dem Mauerfall fährt in die bisher gültigen Bindungen hinein wie ein entwurzelnder Sturm. Entwurzelung ist reizvolle Entfesselung - die wiederum überfordert. Und so wühlt sich die Geschichte in den schier ausweglosen Fragefilz: Was ist an unserer Biografie freier Wille und was Fremdbestimmung? Der »Privatmythos von Selbstbestimmung«, der nur notdürftig den einstigen Bevormundungsstaat zu überleben half - hat er sich denn im freien Westen erledigt?

Im Realismus-Barock seines ostwestdeutschen Panoramas lässt Schacht die Wendezeit aufblitzen; Torben Berg erlebt sich als Zeuge der Zeitgeschichte, der bis nach Großbritannien medial begehrt ist. Skizzen von Freunden, von einstigen Gegnern summieren sich. Beeindruckend das Porträt des früheren Dissidenz-Gefährten Falluhn, Dorfpfarrer, auch er war in die Bundesrepublik gegangen - obwohl er »den Westen zutiefst verachtete, bis in den letzten Joghurt«, diese BRD war ihm »ein materialistisches Nirwana, das die Menschen nur blendete, ja blöd machte«. Was ihn dennoch wegtrieb, war die Angst, die Bedrückung - und er wird sie auch in der weststaatlichen Freiheit nicht los.

Liebe. Sie ist die reine Natur. Also besitzt Liebe auch deren Grausamkeit - es gibt bekanntlich in der Natur keine Gleichberechtigung, keinen wirklichen Frieden, noch nie lieferte Natur ein Beispiel dafür, dass das Schwächere über den Stärkeren siegt. So gibt es auch in der Liebe den Stärkeren und den Schwächeren. Immer liebt von zweien einer stärker - das ist der Schwächere. Denn wer stärker liebt, der macht radikal vor nichts halt, was ihm ermöglicht, dem anderen zuzustimmen. Das ist Erlösung - und zugleich Selbstauflösung?

Der größte Schmerz, der mit den Jahren seine Herrschaft zwischen einander liebenden Menschen errichtet: Es gibt keine Bewunderungspflicht. Torben Berg wird am Ende allein, ohne Rike, nur mit Erinnerungen, durch Paris gehen. Nein, nicht allein: einsam. Aber jetzt ist Silvester. Jakobsmuscheln, Truthahn in Trüffelsoße. Notre Dame, Eiffelturm. Feier! Wo Menschen feiern, feiert der Teufel (während der Clown weint), und sie offenbaren das Betriebsgeheimnis der Gattung: Tragödien erleiden wir nicht, wir vermitteln, wir zertanzen, wir zerreden sie - wir wollen ja leben!

Schachts Roman einer glückvollen, glücklosen Liebe ist Koloratur, ist Opulenz, ist Melodram. Ist das, was der Autor in einem seiner schönsten Gedichte offenbarte: »Auftauchen Verlöschen: Kometengewitter -/ im Raum aller Spiele besiegt uns der Kreis./ Es gibt kein Gestade für jenen Ritter,/ von dem unser Herz mit Gewissheit weiß.« Also: Was uns erfüllt, wird keinen Raum haben; was uns hoffen macht, wird keinen Ort erhalten; und dessen wir sicher sind, das trifft auf Leute, die nur abwinken. Aber nur was wir gegen die Welt lernen, haben wir fürs Leben gelernt. Kann ein Buch mehr Zuversicht geben?

Ulrich Schacht: Notre Dame. Roman. Aufbau, 432 S., geb., 22 €.

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