Auf Karl Heines Traumpfad

In Leipzig kann man vom Wasser aus tief in die Stadtgeschichte eintauchen.

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.

Alle Kinder matschen gern im Wasser, so gesehen unterschied sich auch der Knabe Carl Heine nicht von anderen. Doch der 1819 in eine Leipziger Rittergutsfamilie hineingeborene Junge verhielt sich schon etwas sonderbar. Während andere Kinder stundenlang Matschburgen bauten und auch gern mal ein Beet unter Wasser setzten, legte Carl seinen Ehrgeiz darein, den feuchten Garten seiner Eltern trockenzulegen. Er zog Kanäle, damit das Wasser ablaufen kann, baute kleine Wehre und Dämme - und wenn man der Geschichte glauben darf, gelang sein Vorhaben sogar.

Später, als aus dem kleinen Carl längst ein Karl und aus dem elterlichen Sumpfwiesen ein fruchtbarer Garten geworden war, verlagerte der junge Mann seinen Fokus von feuchten Wiesen auf trockene Jurisprudenz. Dennoch ließ ihn das Wasser nicht los, die Dissertation, die Karl Heine 1843 erfolgreich verteidigte, beschäftigte sich mit der wirtschaftlichen Nutzung von Wasserwegen und deren Ufer nach sächsischem Landesrecht.

Infos

Tourismusinfos:
Tel.: (0341) 7104-260
www.leipzig.travel

Bootsverleih: Bootshaus Klingerweg;
Tel.: (0341) 480 65 45
www.bootstour-leipzig.de

Elsterboot am Rennbahnweg;
Tel: (0163) 7 022 022
www.elsterboot.de

Tipp: Wer nicht selber paddeln will, kann auch an ca. zweistündigen geführten Bootstouren teilnehmen, zum Beispiel mit dem DDR-Motorboot »Weltfrieden«, das bis 1990 auf dem Leipziger Auensee als Ausflugsboot verkehrte und nach der Sanierung seit 1998 in Plagwitz unterwegs ist. Tel.: (01525) 33 630 58 www.ms-weltfrieden.de

Stadthafen Leipzig: Er befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum in der Schreberstraße 20, Zufahrt über Käthe-Kollwitz-Straße. Tramhaltestelle: Westplatz/Stadthafen, Linien 1, 2, 8, 14.

Schon lange hatte der junge Rechtsanwalt, der sich brennend für den wirtschaftlichen Aufschwung seiner Heimatregion interessierte, eine Vision. Er wollte die Messestadt an die Weltmeere anbinden, eine Schifffahrtsstraße von Leipzig nach Hamburg bauen, über die Industriewaren zum Hafen und von dort in alle Welt verschifft werden sollten. Man kann sich sicher vorstellen, welchem Spott der junge Mann ausgesetzt war, wie sich so mancher fragte, ob Heine noch ganz richtig im Kopf sei. Doch der scherte sich nicht darum, lebte seine Vision und machte sich engagiert ans Werk. Ihm ist es letztlich zu verdanken, dass Leipzig zwischen 1840 und 1880 zum Vorreiter der deutschen Industrialisierung wurde.

1856 begannen die Bauarbeiten am ersten Teilstück eines geplanten Kanals von der Leipzig durchfließenden Weißen Elster bis zur Saale, von wo aus die Anbindung ans Meer gesichert gewesen wäre. Acht Jahre später, am 25. Juni 1864, wurde dieser Abschnitt eingeweiht, 26 weitere Jahre dauerte es noch, ehe der zweite bis kurz vor dem Lindenauer Hafen fertig war. Auch wenn Heine, der 1888 starb, das nicht mehr miterlebte, ihm ist es zu verdanken, dass Leipzig einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Und dass Plagwitz zum ersten planmäßig entwickelten großräumigen Industriegebiet Deutschlands wurde.

Der Visionär erwarb große Flächen, ließ Wasserläufe regulieren, das sumpfige Gebiet trockenlegen, um den notwendigen Platz für Wohnungsbau und Industrieansiedlungen zu schaffen. Nirgendwo anders in Deutschland gab es zu Heines Zeiten so eine nahe räumliche Kombination von Wohnen und Arbeiten. 150 Jahre lang schlug in Plagwitz das industrielle Herz Leipzigs, das alle Zeiten mehr oder weniger gut überstand. Erst mit dem Ende der DDR begann der Niedergang. Die Betriebe wurden »abgewickelt«, Zehntausende Menschen verloren ihre Arbeit, viele wanderten ab, es kam zu hohem Leerstand, zu Abriss und Verwüstungen. Plagwitz wurde totgesagt und dem Verfall preisgegeben. Der einst stolze Kanal, der längst Karl Heines Namen trug, war nur noch eine stinkende Kloake zwischen gespenstisch anmutenden leeren Fabrik- und ehemaligen Wohngebäuden.

Hätte es nicht Visionäre - wie 150 Jahre zuvor Karl Heine - gegeben, wer weiß, was aus dem Stadtteil geworden wäre. Doch sie fanden sich und waren fest entschlossen, das schwere Erbe anzutreten und sich des großen Vordenkers würdig zu erweisen, wenngleich ihnen klar war, dass die Zeiten als Industriestandort ein für allemal vorbei sind. Behutsam wollten sie das Vorhandene einer neuen, zeitgemäßen Nutzung zuführen. Zum Glück waren die meisten einst prachtvollen Gebäude aus der Gründerzeit und der frühen Moderne noch erhalten, wenn auch ziemlich ramponiert. Diese und der rund 3,3 Kilometer lange Karl-Heine-Kanal sowie Teile der Weißen Elster wurden ab Anfang der 90er Jahre mit großem Aufwand und noch mehr Geld und Enthusiasmus saniert und rückten langsam wieder in den Fokus . Im Jahr 2000 erlangte das 90 Hektar große Gebiet unter dem Motto »Plagwitz auf dem Weg in 21. Jahrhundert - Ein Stadtteil im Wandel« als externer Standort der EXPO Hannover weltweite Aufmerksamkeit.

Heute kann man das prachtvoll sanierte Areal samt seiner 15 beeindruckenden, Fluss und Kanal querenden Brücken wieder bewundern. Am eindrucksvollsten ist das aus einem Paddel- oder Ausflugsboot heraus, mit denen man die Weiße Elster und den Kanal vom Stadthafen bis zum Lindenauer Hafen durchqueren kann.

Wüsste man es nicht besser, so könnte man bei dieser romantischen Tour glatt vergessen, dass man sich gar nicht weit vom Stadtzentrum entfernt befindet. Kein Straßenlärm ist zu hören, manchmal sieht man noch nicht einmal Häuser, dafür aber kann es passieren, dass plötzlich eine echte venezianische Gondel den Weg kreuzt. Ganz so abwegig ist das aber gar nicht, denn mit knapp 470 Brücken kann Leipzig etwa 50 mehr in die Waagschale werfen als Venedig. Und obendrein muss man im Karl-Heine-Kanal nicht befürchten, jeden Moment mit einer Gondel zu kollidieren, denn er ist ein gutes Stück breiter als die meisten Kanäle in der Lagunenstadt.

Die Tour ist wie ein Who is Who der Stadtgeschichte. Sie führt vorbei an Klingerweg und Klingerhain; beide erinnern an Leipzigs einst populärsten Künstler, Max Klinger, der hier sein Atelier hatte, das aber im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Die 1868 von Klingers Vater erbaute Villa indes steht noch und ist heute Ausstellungs- und Konzertort.

Auch zwei bekannte Verleger hatten sich hier niedergelassen. Einer war Fritz Baedeker, der 1872 das Verlagshaus von Koblenz in die deutsche Buch- und Verlagsmetropole verlegte. Unter seiner Leitung entwickelte sich der von seinem Vater Karl gegründete Verlag zu einem bekannten Unternehmen und die »Baedeker«-Reiseführer wurden zu einer Weltmarke. Bis 1948 blieb die Villa in Familienbesitz, zu DDR-Zeiten war sie eine Jugendherberge, heute hat hier eine HNO-Klinik ihren Sitz.

Herrmann Julius Meyer, bekannt durch das Bibliografische Institut und insbesondere durch »Meyers Lexikon« zog es 1874 aus Hildburghausen in Thüringen nach Leipzig, wo er sich eine Villa am Wasser bauen ließ, die heute als öffentliches Gebäude unter Denkmalschutz steht.

Ein Stück weiter erheben sich rechts und links des Kanalufers beeindruckende Gebäude - die 1866 gegründete Wollgarnfabrik Titel & Krüger. Mit über 100 000 Quadratmetern Geschossfläche ist sie heute Deutschlands größtes Industriedenkmal und Europas größter Gebäudekomplex der Gründerzeit. Bis 1990 wurde hier Garn produziert, heute gehören die Gebäude, die zu großzügigen Loftwohnungen umgebaut wurden, zu den gefragtesten Adressen der Stadt.

Wussten Sie, dass sich in Leipzig das älteste noch aktive deutsche Versandhaus befindet? Das 1868 als Stoffwäschefabrik gegründete Unternehmen Mey & Endlich hatte seinen Stammsitz unweit der Wollgarnfabrik. Sein Begründer, Ernst Mey, hatte 1886 den ersten Versandhauskatalog Deutschlands herausgegeben und gilt somit auch als Begründer des deutschen Versandhandels.

Könnte Karl Heine heute durch seinen Kanal schippern, er würde wohl ebenso Bauklötze staunen, wie die Kanuten, die sich wie durch ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch bewegen. Vielleicht wäre Heine, wenn er sehen könnte, was aus Plagwitz wurde, auch getröstet, dass es letztlich nie gelang, die Wasserverbindung bis nach Hamburg zu bauen. Es scheiterte schlicht am Geld für knapp zehn Kilometer künstliche Wasserstraße. Doch wen juckt das heute noch.

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