Im Hamsterrad

Kein Normalverdiener wählt links, weil er viel weniger verdient als ein Spitzenmanager. Der springende Punkt sozialer Unsicherheit ist der asoziale Druck. Von Andreas Fisahn

  • Andreas Fisahn
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen waren für die Linkspartei wie für die SPD ernüchternd bis niederschmetternd. Es gab eine offenkundige Rechtsverschiebung, ein Teil der Wähler ging in das sogenannte bürgerliche Lager, ein anderer Teil zur AfD.

Dabei konkurrieren SPD wie Linkspartei im gleichen Themenfeld um die Wählergunst. Beide haben die »soziale Gerechtigkeit« zu einem zentralen Thema des Wahlkampfes und zum Schwerpunkt des eigenen Profils auserkoren. Abgesehen von den spezifischen Schwierigkeiten beider Parteien scheint das Thema »soziale Gerechtigkeit« nicht ausreichend zu sein, um die Wähler - aller möglichen Geschlechter - an die Urnen zu lockern.

Und das, obwohl eine Mehrheit der Gesellschaft in Umfragen erklärt, dass es schlecht bestellt sei um die soziale Gerechtigkeit in diesem Lande. Insofern hat die beharrliche Aufklärung von links durchaus Früchte getragen, aber anscheinend sind diese nicht für das Wahlverhalten relevant. Zu überlegen ist deshalb, mit welchem gesellschaftlichen Projekt oder mit welchem Profil neben - explizit nicht »statt« - der sozialen Gerechtigkeit die parlamentarischen Kräfteverhältnisse nach links verschoben werden könnten.

Zunächst: Was ist mit den »spezifischen« Problemen gemeint, die einige zwar kennen, über die »man« aber nicht spricht? Die SPD hat offensichtlich das Problem, dass sie die Missstände problematisiert, die sie selbst geschaffen hat und dabei die Gedächtnisleistung der Bürger unterschätzt. Hartz IV, miese gesetzliche Renten, Ausstieg aus der paritätischen Krankenversicherung, niedriger Spitzensteuersatz - das sind einige der von der Schröder-Regierung geschaffenen Probleme. Die Antworten auf die neue soziale Frage erscheinen deshalb wenig authentisch und glaubwürdig - auch wenn viele Menschen die Gründe vermutlich nicht bewusst reflektieren und benennen können.

Der Linkspartei wird umgekehrt nicht zugetraut, ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit umzusetzen. Das liegt zum Teil sicher an der Ausschließeritis, die aber von einem Teil der Linken dankbar aufgenommen wird. Nämlich von denen, die »splendid isolation« unter Berufung auf selbst gezimmerte Analysen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staates predigen. Schlimmer wird es nur, wenn man zu Begründung den »schlechten Charakter« der Sozialdemokraten anruft.

Diese Form der in Wahrheit unglücklichen, politischen Isolation wird ergänzt durch eine kulturelle Isolation. Das gilt für die SPD wie für die Linkspartei (im Westen). Nur nimmt der kulturelle Isolationismus eine umgekehrte Form an.

Ein Teil der Linken (im Westen) fühlt sich wohl und pflegt die Rolle des Underdog oder Outlaw, was für Proletkult oder Arbeiterkultur gehalten wird. Das ist eine Kultur, der die abhängig Beschäftigten gerade entrinnen wollen, die sie hinter oder unter sich lassen wollen und die mit der wirklich populären Kultur nichts zu tun hat.

Während sich ein Teil der Linken vermeintlich »nach oben« abgrenzt, grenzen sich die aktiven Mitglieder der SPD, die meist auch Funktionsträger sind, nach unten von ihrer Wählerschaft ab. Sie geben sich alle Mühe, die Distinktionsmerkmale der oberen Schichten zu übernehmen oder zu kopieren, was Franz Walter auch in dieser Zeitung unlängst exzellent analysiert hat. (»Walter, Hömma, ich krieg dat schon hin«, 22.5.). Beide wollen »nicht dazugehören«, aber eben in umgekehrter Perspektive. Nicht selten steigert sich die kulturelle Isolation in einen spezifischen Autismus, wenn sich Parteifunktionäre bei gesellschaftlichen Anlässen selbstzufrieden um ihr Fähnlein scharen und die Exklusivität ihres Klubs demonstrieren. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit erhält so − wohl oder übel − eine merkwürdige Konnotation. Denn dieser so unterschiedliche Habitus in beiden Parteien, die sich auf die Tradition der Arbeiterbewegung berufen, muss zu dem Eindruck führen, dass sie von den wirklichen Problemen weit entfernt sind.

Zentral ist aber, dass die Frage der sozialen Gerechtigkeit als Problem der Ungleichheit, der ungleichen Verteilung den Diskurs bestimmt. Das ist insofern konsequent, als Gerechtigkeit seit Aristoteles über die Form der Verteilung und Gleichheit definiert wird.

»Gleichheit macht den Kern der Gerechtigkeit aus,« definierte etwa Gustav Radbruch, sozialdemokratischer Justizminister in der Weimarer Republik. Das Vermögen des reichsten Prozents der Gesellschaft wird in Relation zum Vermögen der unteren Hälfte gesetzt - mit bekannten Ergebnissen.

Der von Kenntnis ungetrübte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz spricht allgemeiner von den zu niedrigen Löhnen »hart arbeitender Menschen.« Die Diskrepanz in Einkommen und Vermögen des reichsten und des ärmsten Quintils der Bevölkerung wird von vielen durchaus als ungerecht wahrgenommen und für falsch gehalten.

Das Problem ist: Kein Normalverdiener und keine Normalverdienerin wählen Linkspartei oder SPD, weil sie erheblich weniger verdienen als Spitzenmanager wie Dieter Zetsche, die Familie Quandt oder Martin Winterkorn. Die Normalverdiener fahren nach Marokko, Thailand oder auch in die Türkei und bekommen dort für ihre Euro den Hintern so gepudert, dass sie sich keineswegs arm fühlen.

Das »Prekariat« wiederum, die wirklich Armen, von denen es ohne Zweifel zu viele gibt, interessiert sich wenig für Politik, geht nicht zur Wahl oder - schlimmer noch - wählt AfD, weil diese Menschen das nachvollziehbare Gefühl haben, mit Zuwanderern um Arbeit und Wohnung zu konkurrieren. Der Humanismus und Idealismus einer Refugee-Welcome- Kultur kommt dort nicht an.

Nun haben ausgerechnet die bürgerlichen Wahlforscher die Arbeiterklasse entdeckt, deren Existenz sie seit den 1950er Jahren vehement geleugnet hatten. Diese wähle in ganz Europa national-chauvinistische Parteien. Als Grund wird aber nicht ungleiche Verteilung oder (relative) Armut - sondern Abstiegsangst ausgemacht. Dazu gehört das Gefühl, dass man den Wohlstand und die Lebenssicherheit der vorangegangenen Generation nicht erreichen wird, ein Gefühl, das unabhängig vom realen, materiellen Reichtum existieren kann.

Beispielsweise bemerken gesetzlich Versicherte durchaus, dass sie für immer höhere Beiträge immer geringere Leistungen erhalten. Linkspartei und SPD antworten darauf mit der Bürgerversicherung. Aber die Diskussion um diesen Vorschlag bleibt meist technokratisch, ein Expertendiskurs um die alternde Gesellschaft und Produktivitätssteigerung. Der Aspekt der sozialen Sicherheit, die man eher Lebenssicherheit nennen sollte, geht dabei schlicht den Bach runter.

Vor allem aber: Soziale Sicherheit ist nicht identisch mit sozialer Gerechtigkeit. Der Diskurs um Ungleichheit und Armut in dieser Gesellschaft wird nicht oder selten übersetzt in die Frage nach der Lebenssicherheit. Und anstatt Sicherheit allgemein als Lebenssicherheit zu deuten, die Voraussetzung von Freiheit ist, lässt sich die gesellschaftliche Linke den Sicherheitsdiskurs von rechts aufdrängen und meint Terrain gutzumachen, indem sie auch mehr Polizei fordert. Das hat noch nie funktioniert − den Wettlauf um schärfere Überwachung und Repression gewinnt die Rechte immer.

Der Mangel an sozialer Sicherheit wird unter neoliberalen Vorzeichen individuell verarbeitet. Die Lektion hat die marktradikale Gesellschaft den Menschen eingeprügelt: Jeder ist seines Glückes Schmied und folglich seines Unglücks Schreiner. Wer fest daran glaubt, dass er sein Unglück selbst verantwortet, gerät im Zeichen der Unsicherheit notwendig unter Druck - real und mental.

Gefordert werden Flexibilität und Anpassungsbereitschaft, aber gleichzeitig Kreativität, und das möglichst rund um die Uhr. Die globale Konkurrenz, das wird geduldet und erlitten, erfordere die Intensivierung der Arbeit, die allgemeine und allgegenwärtige Einsatzbereitschaft, den Einsatz für »seine« Firma mit Haut und Haaren.

An die Stelle der Fabrikdisziplin des Fordismus, die mit der Stechuhr gemessen wurde, tritt die Bewertung der Performance, die zwar ebenso wenig mit dem realen Arbeitsergebnis zu tun hat wie die reine Anwesenheit, aber ständige Anspannung, mindestens das Vortäuschen uneingeschränkter Einsatzbereitschaft und des Vielbeschäftigtseins fordert.

Diese Verplanung und Durchrationalisierung der Arbeit wird in der Nicht-Arbeitszeit, die ja längst nicht Freizeit bedeutet, übernommen. Der Selbstoptimierer muss sein »Humankapital« auch in der Nicht-Arbeitszeit nutzen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen dem scheinbar freiwilligen »Bis-an-die-Grenzen-der-Leistungsfähigkeit-Gehen« und dem notwendigen »Sich-auf-der-Höhe-der-Zeit-Halten« oder dem »Für-den-Wettbewerb-fit-Machen« - es geht darum, Erwartungshaltungen der Gesellschaft in der Arbeit wie in der Freizeit zu entsprechen, darum, nicht zu den »Loosern« zu gehören. Diese werden im Jugendjargon brutal, aber das Gemeinte treffend »Opfer« genannt.

Das bedeutet: Fitness ist gleichzeitig individuelles Bedürfnis und notwendige Voraussetzung der Performance im Job wie im Alltag. »Lebenslanges Lernen« ist gleichzeitig humanistische Errungenschaft wie Folge des Zwangs zur optimalen Verwertung des »Humankapitals«; so wird es lebenslängliches Lernen. Die mobile Gesellschaft verlangt individuelle Mobilität. Sie kostet gleichzeitig viel Lebenszeit und schafft Druck, wobei immer der Schein der Freiwilligkeit besteht. Niemand wird gezwungen, die alten Eltern im 400 Kilometer entfernten ehemaligen Heimatort zu besuchen. Ähnliches gilt für den Konsumismus − man muss ja nicht dazugehören wollen. Aber alles erfordert Planung und rigides Zeitmanagement, das wenig Raum lässt für Muße, Geselligkeit oder das »gute Leben«.

So ist das Problem normal verdienender Menschen offenbar nicht die materielle Ungleichheit, die wird als ärgerlich und unethisch, aber nicht als individuelles Problem wahrgenommen. Gefühlt, aber möglicherweise wenig reflektiert, wird dagegen der permanente, soziale oder besser asoziale Druck, das Gefangensein im Hamsterrad, welches bekanntlich ein Ständig-in-Bewegung-Sein erfordert, ohne dabei einen Schritt voran zu kommen. Wahrgenommen wird das als Zeitknappheit, die das Problem aber nur unzureichend trifft, weil gleichzeitig ungeheuer viel Zeit etwa für den »notwendigen« Konsumismus verschwendet wird.

Der permanente asoziale Druck, eine gute Performance abzuliefern, verbunden mit der Frustration aus dem Hamsterradgefühl äußert sich in Aggressivität und Depression. Das sind zwei gegensätzliche, aber gleichursprüngliche Phänomene dieser Zeit. In der Politik wird diese Problemlage möglicherweise auch deshalb nicht widergespiegelt, weil das ununterbrochene Performieren, das Immer-in-Bewegung-Sein mit einer gehörigen Portion des So-tun-als-ob, zum Hauptgeschäft des Berufspolitikers gehört, der deshalb betriebsblind ist - das heißt aufgrund seiner spezifisch beruflichen Deformation die Deformationen im Alltag nicht mehr wahrnehmen kann.

Ein Aufbrechen oder gar Überwinden der Hetze, des sozialen Drucks und des Stresses im Alltag, die Sorge um das »gute Leben«, das nicht einfach in der Vermehrung materieller Güter und auch nicht nur in der Reduzierung der Arbeitszeit liegt, ist offenkundig schwer in politische Programmatik zu übersetzen. Aber es könnte sein, dass dieses Problem Ansatzpunkt für Politikkonzepte von links sein muss, welche das Programm der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit ergänzen und modifizieren sollten.

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