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Die neue Heimarbeit

Die IG Metall will die soziale Absicherung von freien Netzarbeitern verbessern

Am Morgen hat Stephan Gerhard einen Ratgeberbeitrag über Investieren in Rohstoffe geschrieben. 600 Worte, fertig in anderthalb Stunden. Für wen die Texte sind, weiß er gar nicht immer so genau. Den aktuellen Auftrag hat er über die Crowdworking-Plattform Content.de erhalten, und da läuft die Auftragsvergabe anonym, zum Schutz des Geschäftsmodells. Denn dieses besteht darin, freie Autoren wie Stephan Gerhard und Unternehmen zusammenzubringen, die Texte für ihre Webseiten, aber auch Produktbeschreibungen für Online-Shops, Blogbeiträge oder Pressemitteilungen brauchen und dafür niemanden fest einstellen wollen. Viele Unternehmen nutzen diese Möglichkeit - der Versandhändler Otto genauso wie die Baumarktkette Hellweg, das Vergleichsportal Check 24 oder der Babyshop windeln.de.

Stephan Gerhard ist Mitte 50, lebt in Bonn. Früher arbeitete er in der Kreditwirtschaft, heute klickt er sich als »Mikrojobber« ohne feste Anstellung und Soloselbstständiger von Auftrag zu Auftrag durchs Netz. Seit fünf Jahren ist er bei content.de angemeldet, seit kurzem versucht er, tatsächlich davon zu leben, dass er für verschiedene Unternehmen Texte schwerpunktmäßig zu Finanzen, Wirtschaft und Krediten produziert. Ein Auftrag umfasst 400 bis 1000 Wörter, dafür hat er meist ein bis drei Tage Zeit. Pro Wort bekommt er zwischen drei und fünf Cent. Fünf bis sieben Aufträge schafft er an einem normalen Arbeitstag. Darüber hinaus gibt es auch »Großaufträge« außerhalb der Plattform.

Neu sind diese Jobs nicht: Digitale Selbstständige gibt es seit Jahren. Mal werden sie als digitale Boheme gefeiert, mal als digitales Prekariat bedauert - je nachdem, ob man die Vor- oder die Nachteile dieser Arbeitsweise betonen will. Sie bietet Flexibilität, Arbeiten ohne Hierarchien, erleichtert die Vereinbarkeit von Job und Leben. Auf der anderen Seite stehen niedrige Löhne, entgrenzte Arbeitszeiten, fehlende Absicherung für Krankheit und Alter.

Neuer sind dagegen die Internetplattformen, über die diese Menschen Aufträge von Unternehmen bekommen. Sie heißen clickworker, testbirds oder eben content.de und schaffen einen weltweiten Markt für Diensteanbieter. Crowdwork reicht von vergleichsweise anspruchslosen Tätigkeiten wie Produkte beschreiben, Fotos verschlagworten oder Preise im Käseregal recherchieren über kurze Werbetexte verfassen und Apps testen bis hin zu komplexen Entwicklungsaufgaben für Unternehmen. Etwa 30 Crowdworking-Plattformen sollen ihren Sitz in Deutschland haben. Ein bis zwei Millionen Menschen sind darauf aktiv, genauer erfasst wird das bislang nicht. Noch sind das vergleichsweise wenige. Aber das Modell wächst. In zwei Jahren werde Crowdsourcing »durch die Decke gehen«, prophezeit Christiane Benner. Die Vizevorsitzende der IG Metall betreut ein Projekt, das die Arbeitsbedingungen von Crowdworkern verbessern will. Eine Webseite wurde als Anlaufstelle geschaltet, dort können sie sich beispielsweise informieren, wie mögliche Auftraggeber bewertet wurden. Mit Workshops versucht die Gewerkschaft, die anonymen Netzarbeiter im realen Leben zu erreichen und herauszufinden, was deren Motivation ist.

Erst vor zwei Jahren hat sich die Gewerkschaft für Soloselbstständige geöffnet. Bis dahin sah sie keinen Bedarf. Inzwischen beobachtet sie aber auch in ihrem Organisationsbereich, dass Daimler, BMW oder Airbus Aufgaben an Crowdworker auslagern, die für sie vor allem als kreative Köpfe interessant sind. Der Vorteil für Unternehmen liegt auf der Hand: Die Crowdworker arbeiten freiberuflich, es gibt keine Gehaltsverhandlungen und die Unternehmen müssen keine Abgaben für Sozialversicherungen zahlen.

Mit der Plattformökonomie entstehen völlig neue Unternehmen und Geschäftsmodelle, die komplett unreguliert sind und bestehende Standards unter Druck setzen. »Wir müssen alles daran setzen, dass Crowd-working nicht zu einer Abwärtsspirale insbesondere bei Vergütung, sozialer Absicherung und auch in Fragen der Mitbestimmung führt«, betont Benner. »Arbeit 4.0 braucht einen Sozialstaat 4.0.« Die Gewerkschaften haben sich entschieden, diese neue Arbeitswelt weder gut, noch schlecht zu finden, sondern als Tatsache zu akzeptieren - und mitzugestalten. Denn sie wissen auch, dass nicht nur Unternehmen diese Entwicklung antreiben, sondern ebenso junge Menschen, die flexibel und selbstbestimmt arbeiten wollen. Fast schon verwundert nimmt man in der Frankfurter IG-Metall-Zentrale zur Kenntnis, dass junge Kreative freiwillig und für umsonst innovative Konzepte für Unternehmen entwickeln, einfach nur, weil es ihnen Spaß macht. Gut und schön, findet die Gewerkschafterin Benner. Auf eines möchte sie dann aber doch bestehen: Konzerne mit Milliardengewinnen sollen solche Ideen bezahlen.

Interessant ist Crowdworking nicht nur für junge Kreative, sondern auch für Menschen mit biografischen Brüchen, die Schwierigkeiten haben, wieder einen festen Job zu finden. Für Stephan Gerhard hat es so angefangen. Er befand sich damals in einer Lebenskrise - Job weg, die Ehe ging in die Brüche. Irgendwann begann er, im Netz nach Aufträgen zu suchen. »In meinem Alter findet man eine Feststellung ja nicht mehr so einfach.« Sein Alter interessiert hier keinen. Nur die Qualität seiner Texte.

Typischerweise sind Crowdworker jünger als Gerhard. Mitte 30, ledig und mit Abitur, fand die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung heraus. Im vergangenen Jahr ist eine Reihe von Studien erschienen, die sich dem Sektor empirisch nähern. Mehr als ein Drittel sind demnach Freiberufler oder Selbstständige, 19 Prozent Studenten, 20 Prozent haben einen anderen Vollzeitjob - denn für den überwiegenden Teil der Befragten ist die Arbeit in der Crowd ein Nebenverdienst. Manche versuchen aber auch, davon zu leben. Viel mehr als 1500 Euro im Monat kommt dabei selten heraus. Auch bei Stephan Gerhard ist das so. Der Bonner landet im Schnitt bei 2000 Euro, »es war auch schon deutlich mehr oder deutlich weniger«. Im Augenblick läuft es gut, die Unternehmen melden sich bei ihm, er muss nicht selbst nach Aufträgen suchen. Aber das schwankt.

Die IG Metall fordert für Beschäftigte, die sich ihre Arbeitsaufträge über Plattformen im Internet besorgen, eine faire Bezahlung und soziale Absicherung. Wie das erreicht werden kann, dazu gibt es erste Ideen. Eine der Kernfragen ist die nach dem Status von Crowdworkern: Würden sie als Arbeitnehmer oder wenigstens arbeitnehmerähnlich eingestuft, wären sie durch das bestehende Arbeitsrecht geschützt. Das ist jedoch nicht der Fall, wie eine Studie herausfand, die die Metallgewerkschaft in Auftrag gegeben hat. In Deutschland gelten sie meist als Soloselbstständige. Dabei ist das nicht zwingend, finden die Verfasser: In der Dreiecksbeziehung zu Plattformen und Unternehmen könne man Crowdworker auch als Leiharbeiter sehen. Denkbar wäre auch ein Status als Heimarbeiter, wodurch sie in den Genuss von Schutzvorschriften kämen. Derzeit sichern lediglich die Allgemeinen Geschäftsbedingungen minimale Rechte. Aber schon ohne eine Neubewertung des Beschäftigungsstatus könnte die Politik etwas tun. Sie könnte die Sozialversicherungen für Selbstständige öffnen bzw. den Zugang erleichtern, das Modell Künstlersozialkasse ausbauen, um ein einheitliches System zu schaffen, das auch andere Berufe einschließt, Mindesthonorare gesetzlich festlegen sowie Mindeststandards für AGB.

Erste kleine Fortschritte sind erreicht. Auf Werben der IG Metall hin haben acht Plattformen ihren freiwilligen Verhaltenskodex »für eine gewinnbringende und faire Zusammenarbeit zwischen Crowdsourcing-Unternehmen und Crowdworkern« verbessert. Sie verpflichten sich nun, lokale Lohnstandards zu berücksichtigen - sprich, nicht einfach zu unterbieten. Gut für Stephan Gerhard. Seine Vermittlungsplattform content.de gehört zu den Unterzeichnern.

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