Macht euch Russland nicht zum Feind

Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann über die politischen Scheuklappen im Westen

  • Erik Baron
  • Lesedauer: 4 Min.

Es herrscht Eiszeit zwischen Deutschland und Russland. Und die Autoren dieses Buches lassen keinen Zweifel: Schuld daran trägt die Bundesregierung. Die Fakten, die Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann zusammentragen, sind dem informierten linken Leser nicht nur durchaus geläufig, sie scheinen doch offensichtlich für jedermann sichtbar auf dem Tisch zu liegen. Doch die Wahrnehmung der Menschen, geprägt durch die Leitmedien, ist nun einmal aus dem Gleichgewicht geraten, so dass sie manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen, vor allem, wenn die Leitmedien mit der Beharrlichkeit eines Ignoranten behaupten, das seien überhaupt keine Bäume, oder der Wald an sich sei eine Verschwörungstheorie. Insofern ist es wichtig, mit gleicher Beharrlichkeit immer wieder auf die Fakten zu verweisen.

Man nehme sich nur einmal die Europakarte von 1990 und vergleiche den Verlauf der damaligen NATO-Ostgrenze mit der von heute. Dann lese man, was der damalige NATO-Generalsekretär Manfred Wörner im Mai 1990 in Brüssel gesagt hat: »Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb des Staatsgebietes der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.« Die deutsche Einheit wurde mit der Zusage erkauft, dass keine NATO-Truppen gen Osten verschoben werden. Nun argumentieren die NATO-Apologeten mit einer veränderten Sicherheitslage in Europa und dem gewachsenen Sicherheitsbedürfnis osteuropäischer Länder, das sie unter den Schutzschild der NATO treibt, dem man sich nicht entziehen könne. Insbesondere die Ukraine-Krise mit der »Annexion« der Krim durch Russland sei Beweis genug, anderen osteuropäischen Staaten auch militärisch zur Seite stehen zu müssen.

Gerade der Präzedenzfall Ukraine spielt für die USA und die NATO seit jeher eine geostrategische Rolle, um Russland zu schwächen. »Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Land mehr«, hatte Zbigniew Brzezinski, Vordenker der US-amerikanischen Globalstrategie, bereits 1997 die Denkrichtung vorgegeben. Jetzt endlich hat man die Krise, die man braucht, um Russland kaltzustellen, denn es ginge, so Timothy Snyder, noch so ein US-amerikanischer Vordenker, im Mai 2014, um »das Eurasische Projekt, das zugleich Wirtschaftsraum und Wertegemeinschaft ist« und »für einen anderen Zivilisationsentwurf« stehe. Die sichelförmige NATO-Umklammerung Russlands vom Norden bis tief in den Süden ist Bestandteil dieses »Clash of Civilizations«.

Insofern ist es von besonderer Bedeutung und das Verdienst von Gehrcke und Reymann, den Ukraine-Konflikt in seiner Historie noch einmal aufgedröselt zu haben, denn in der öffentlichen Wahrnehmung besteht dieser Konflikt vor allem in der vermeintlich völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland. Diese Sezession, wie die Autoren die Angliederung der Krim bezeichnen, ist jedoch nur das Ende einer Kette von Ereignissen, die nicht anders denn als massive und aggressive Einmischungsversuche des Westens in die Belange der Ukraine bezeichnet werden können, indem man Kiew vor die falsche Alternative Europa oder Russland stellte. Und die Bundesregierung marschierte tonangebend mit vorneweg. Dabei hatte Angela Merkel noch im Winter 2013/14 unterstrichen, dass man aus dem Entweder-Oder herauskommen müsse. Doch als der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch das von der EU vorgelegte Assoziierungsabkommen nicht unterzeichnet hatte, da es eine zu starke Abhängigkeit vom Westen bedeutete, und stattdessen ein weitreichendes Abkommen mit Russland unterschrieb, das auch für die Ukraine finanziell attraktiv war, war es vorbei mit dem Schmusekurs, und Plan B wurde aus der Schublade gezogen. So nahm das Unheil seinen Lauf. Und nun muss die Krim-Sezession als Grund herhalten, warum der Westen die Daumenschrauben mittels Sanktionen gegen Russland anzieht. Auch hier marschiert die Bundesregierung wieder vorneweg und scheint nicht einmal zu merken, wie sehr sie sich mit den Sanktionen ins eigene (Wirtschafts-)Fleisch schneidet. Oder sie nimmt diese Einschnitte billigend in Kauf, was nicht für geostrategischen Weitblick spricht, denn auf Dauer wird Deutschland, wird Europa nicht ohne Russland zurechtkommen.

Daher lautet die Botschaft von Gehrcke und Reymann auch unmissverständlich: »Macht uns die Russen nicht zu Feinden!« Auf der Suche nach kurzfristigen Lösungsansätzen setzen die Autoren vor allem auf die Reaktivierung des Deutsch-Russischen Forums und des Petersburger Dialogs, aber auch auf Formen von »Volksdiplomatie« wie Städtepartnerschaften. Strategisch steht natürlich die Beendigung der NATO-Osterweiterung und der Stationierung von NATO-Truppen an der russischen Westgrenze als Hauptforderung, um eine Eskalation zu verhindern. Und natürlich wird man ohne Beendigung der Sanktionen Russland auch nicht dazu bewegen zu können, einen Schritt auf den Westen zuzugehen. Aber der ist nach wie vor in seinem »Entweder-Oder-Denken« verhaftet, nicht in der Lage, seine politischen Scheuklappen abzulegen.

Wolfgang Gehrcke/Christiane Reymann: Deutschland und Russland - wie weiter? Edition Berolina. 160 S., br., 9,99 €.

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