Systematische Benachteiligung bei der Arbeitsvermittlung

Bericht des Antidiskriminierungsstelle kritisiert Verfahrensweise der Jobcenter

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Berlin. Fast jeder Dritte in Deutschland hat bereits diskriminierende Situationen erlebt. Dasgeht aus einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hervor. Gerade auf dem Arbeitsmarkt treffe es vor allem Gruppen, die es auf dem Arbeitsmarkt ohnehin schwer haben wie Alleinerziehende, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrationshintergrund oder Einwanderer.

Fast die Hälfte aller Personen mit Diskriminierungserfahrungen gaben bei der jüngsten Erhebung der Antidiskriminierungsstelle an, im Arbeitsleben benachteiligt worden zu sein. Der Bericht, den die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, Christine Lüders, gemeinsam mit der Integrationsbeauftragten des Bundes, Aydan Özoguz (SPD), und der Behindertenbeauftragten Verena Bentele ebenfalls (SPD) vorstellte, spricht von teils gravierenden Diskriminierungsrisiken in diesem Bereich. Dies widerspreche dem gesetzlichen Auftrag der öffentlichen Arbeitsvermittlung, gerade Personen zu unterstützen, die es schwerer haben als andere, eine Stelle zu finden. Die Arbeitsvermittlung müsse die Chancenunterschiede ausgleichen, nicht verstärken, forderte Lüders.

Hauptgrund sind dem Bericht zufolge die behördliche Verfahrensweisen, wie beispielsweise das Kennzahlensystem der Jobcenter. Es führe dazu, dass die Vermittler Erwerbslose vernachlässigten, die besonders viel Unterstützung und Beratung bräuchten. So richten Vermittler den Fokus nicht am individuellen Bedarf der Arbeitssuchenden aus, sondern versuchen, «mit möglichst minimalem Aufwand die Kennzahlen zu erfüllen». Die Kennzahlen geben Auskunft darüber, wie erfolgreich ein Jobcenter Erwerbslose in Arbeit vermittelt. Dies könne «fatale Auswirkungen» haben«, warnte Lüders. Sie sprach sich für unabhängige Obmudsstellen aus, um Betroffenen besser zu helfen. Diskriminierende Erfahrungen machten Arbeitssuchende aber auch mit einzelnen Vermittlern.

Menschen mit Behinderungen werden zudem laut dem Bericht, ungeachtet ihrer Qualifikation, häufig nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Es fehle oft an einer behindertengerechten Ausstattung der Arbeitsplätze. Vor allem in der privaten Wirtschaft gebe es »noch viele Barrieren für Menschen mit Behinderungen«, erklärte die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Verena Bentele. Das Verweigern etwa von Rampen oder breiteren Türen in Läden, Restaurants und Arztpraxen müsse »als eine Form der Diskriminierung in das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufgenommen werden«.

Özoguz kritisierte, dass es auch Bewerber mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben, auch mit gleicher oder sogar besserer Qualifikation. Bewerber mit vermeintlich »nicht-deutschen« Namen werden häufig gar nicht erst zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Hinzu kämen Defizite bei Dolmetscherdiensten für Einwanderer.

Der Bericht stützt sich auf eine 2016 veröffentlichte Studie der Antidiskriminierungsstelle sowie auf Beratungsanfragen. Von den rund 9000 Beratungsanfragen, die von 2013 bis 2016 bei der Antidiskriminierungsstelle eingingen, betrafen demnach 41 Prozent das Arbeitsleben. Knapp ein Drittel der Befragten (31,4 Prozent) berichten davon, in den beiden Jahren vor der Erhebung Diskriminierung aufgrund eines oder mehrerer der im AGG genannten Merkmale erfahren zu haben.

In Deutschland komm es ebenso zu Diskriminierung im Bereich Dienstleistungen und Freizeit. So wird Menschen vor allem wegen ihrer vermeintlichen »ethnischen« Herkunft der Zutritt etwa zu Clubs oder Fitnessstudios verwehrt. Menschen mit Rollstühlen kommen nicht in Restaurants oder können ihre Assistenzhunde nicht in Verkehrsmitteln mitnehmen. Vor allem die vermeintliche »ethnische« Herkunft und der Aufenthaltsstatus erhöhen zudem das Risiko, bei der Suche nach einer Wohnung diskriminiert zu werden. Auch die noch ausstehende Möglichkeit für gleichgeschlechtliche Paare, eine Ehe zu schließen, werden als Diskriminierung seitens der Behörden empfunden.

Der Mut, sich gegen Diskriminierung zu wehren, wird dem Bericht zufolge häufig nicht belohnt. Bei rund einem Viertel derjenigen, die Maßnahmen gegen eine Benachteiligung ergriffen, wiederholte sich die Diskriminierung. Nur 18 Prozent sprachen von positiven Folgen wie einer Entschuldigung oder Wiedergutmachung. Insgesamt gehen vier von zehn Betroffenen nicht gegen eine Diskriminierung vor.

Der Bericht über Diskriminierung in Deutschland richtet sich an den Bundestag und umfasst alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Die Antidiskriminierungsstelle hat mit der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Integration und Flüchtlinge, der Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen, sowie dem Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten den gesetzlichen Auftrag, alle vier Jahre dem Parlament einen Bericht über Diskriminierungen vorzulegen sowie Empfehlungen zu ihrer Beseitigung und Vermeidung zu geben.

Aus Sicht der Antidiskriminierungsstelle kann der Mehrzahl der institutionellen Diskriminierungsrisiken effektiv begegnet werden. Im Bereich der Arbeitsvermittlung fordern sie unter anderem, die Kennzahlensteuerung zu prüfen und wenn nötig anzupassen. Darüber hinaus sollten Arbeitsagenturen und Jobcenter Leistungsberechtigte noch stärker vorab über Verfahrensrechte wie Akteneinsicht oder mögliche zusätzliche Anträge und über den Anspruch auf Barrierefreiheit informieren. Weiterbildungen sollten dabei stärker auf die Sensibilisierung zu Diskriminierungen abzielen. Agenturen/nd

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