Schwankende Leben

Nguyen Ngoc Tu: Erzählungen aus Vietnam

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 2 Min.

Es ist eine fremde Welt, die uns hier begegnet. Die Erzählungen von Nguyen Ngoc Tu sind poetisch, faszinierend und zugleich unendlich traurig. Sie nehmen uns mit in eine Gegend, von der wir bisher nur wenig erfuhren, aber märchenhaft, wie sie die Herausgeber deuten, sind sie nicht. Sie schildern die Schattenseite der »sozialistischen Republik« Vietnam, eines Landes, das mit dem großen Glitzern eines entfesselten Kapitalismus der Metropolen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt (ehemals Saigon) kometengleich aufgestiegen ist und seine dunkle Seite in Nacht und Armut versinken lässt. Eine der vierzehn Erzählungen heißt direkt »die traurigste Geschichte«, doch das Schicksal der jungen Frau, die hier von einem unwiederbringlichen Verlust in ihrem Leben berichtet, unterscheidet sich nicht wesentlich von denen der anderen Protagonisten. Alle sind sie Erniedrigte, die ums Überleben kämpfen, skurrile Männer, Fischer, Händler mit ihren Sampans, den flachen Booten, Entenzüchter, Erntehelfer, verzweifelte junge Frauen, zu schnell erwachsen gewordene Kinder. Einmal heißt es: »So geht es bei den Menschen, kaum ist ein Schmerz vorbei, kommt schon der nächste.«

Die Geschichten spielen sich im Gebiet des Mekongdeltas ab. Der große Fluss mit seinen Nebenarmen und einem »leichten melancholischen Nordwind« ist Lebensader und Lebensbedrohung. An ihm hängt das Schicksal dieser »Drei-Sieben-Neun-Einwohner«, »dreimal gekentert, sieben Mal wieder aufgetaucht, neun Mal von den Wellen hin- und hergerissen«. Schwankend-schaukelnd ist ihr Leben im doppelten Wortsinn. Da ist »der Alte mit dem ängstlichen Blick«, dessen Leben einer Irrfahrt zwischen Feldern und Kanälen gleicht. An Land genügt ihm ein kleiner Verschlag. Morgens treibt er seine Legeenten in die Reisstoppelfelder. Sind sie restlos abgeerntet, zieht er weiter. Die Frauen an Land können die Männer nicht halten. Ist einer für kurze Zeit sesshaft geworden, dann bleibt er meinst nicht lange. Der ruhelose Fluss, der auch in Vollmondnächten nie schläft, zieht ihn zurück.

Die Titelerzählung »Endlose Felder« ist nicht nur die umfassendste, sondern auch die aktuellste, weil sie den vielen anstehenden Problemen (vor allem der Auflösung von Familien) neue, wie das der Vogelgrippe, hinzufügt. Vietnam-Reisende berichten von diesen endlosen Reisfeldern im Kontrast zu den überfüllten Metropolen. So stellt sich am Ende noch einmal die Frage nach der Aktualität der bis 2005 entstandenen Erzählungen, die mit Naturschilderungen verführen. Und die Antwort: Sie sind weit mehr als nur zeitlose Legenden.

Nguyen Ngoc Tu: Endlose Felder. Erzählungen. Aus dem Vietnamesischen von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo zusammen mit Aurora Ngo und Nguyen Ngoc Tan. Illustrationen Helmut Stabe. Mitteldeutscher Verlag, 272 S., geb., 22,95 €.

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