Musik in Gegenüberstellung

In der Reformationskirche Moabit sang der Kammerchor Univocale alte und neue A-cappella-Stücke

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Hildegard von Bingen (1098 - 1179), im 20. Jahrhundert auch in weltlichen Kreisen zur Berühmtheit avanciert, schrieb und vokalisierte dieses heilige Gedicht, das einem Lufthauch gleich endet: »O virtus Sapientiae,/ quae circuiens circuisti/ comprehendendo omnia« - »O du Kraft der Weisheit,/ du umkreisest die Kreisbahn,/ alles umfassend«. Stilles Eingedenken. Frauen singen die Verse in der gebotenen Version, was der Kirchenraum seinerzeit verbot. Die Männerstimmen schweigen so lange, bis ihr Einsatz gegen Ende geboten scheint, allein um sich als kaum hörbarer Orgelpunkt hinter das Weibliche zu stellen. Die Leute klatschten, was gemeinhin unüblich ist in der Kirche: Hier waltet sonst die Zerknirschung und bei gefalteten Händen der treue, dankbare Aufblick, sobald der lutherische Choral oder die katholische Sequentiae verklingt.

Der seit 2009 bestehende, »studentisch geprägte« Chor Univocale wird geleitet von dem sehr versierten Christoph Dominik Ostendorf. Höchst eindrücklich der A-cappella-Abend, den das Ensemble in den kühlen Mauern der Reformationskirche gab. Das Gebäude liegt am Rand des Stadtteils Moabit und ist akustisch nicht allzu dicht. Während der Chor sang, fielen schon mal - nicht unsympathisch - Straßengeräusche oder polizeiliche Signalhörner ein, als wären es Ferninstrumente.

Dieser Chor singt zwar oft in Kirchen, aber sein Repertoire führt im gesetzten Rahmen darüber hinaus. Was die Sparte gegenwärtig macht, interessiert genauso wie die eherne Kirchenmusiktradition. »Neue Renaissance - Sechs Diptychen für Chor a cappella« überschrieb das Ensemble sein 80-Minuten-Programm. Die Idee des Dyptychons ist so alt wie jene des Triptychons in Malerei, Musik und Konzertpraxis: Nicht drei, sondern zwei Werke oder Werkteile stehen einander bei oder entgegen. Monteverdis Doppelchörigkeit steht in neuerer Zeit als Urmodell hierfür. Sie galt zwar noch der einzelnen Komposition, in der zwei räumlich getrennte Chorgruppen aufeinanderstießen, aber sie weitete sich aus. Die Basilica di San Marco zu Venedig etwa gibt heute Konzerte, in denen jeweils paarig Chorstücke aus verschiedenen Zeitepochen erklingen.

Musik lebt von Gegenüberstellungen: Dux und Comes der Fugenkomposition, Themendualismus der Sonatenform, Prinzipien des Responsoriums, gestellt unter Kategorien des Widerspruchs, der Kontradiktion, der Entelechie waren gängige Anwendungsweisen - jedenfalls in vorherigen Zeiten. Heute sind sie teils vergessen. Univocale lässt dergleichen wieder aufleben, indem thematisch zweierlei aufeinander bezogen wird, Geschichte und Gegenwart, was wiederum nicht so neu ist.

Der Bingen-Eingangschor bestimmte freilich nicht die Atmosphäre des Abends. Der begann doppelchörig mit Triogruppe (zwei Herren, eine Dame) in der Mitte. Diese Aufführungsstruktur liegt »Salve Regina« von Marc-Antoine Charpentier (1643 - 1704) zugrunde: ein mit vielerlei Echos, homophonen und polyphonen Satzelementen operierendes Gebilde, das sich aufs Strahlendste zur Königin und Mutter der Barmherzigkeit verhält. Dem gegenübergestellt »Salve Regina« für gemischten Chor des Katalanen Josep Lila i Casañas, geboren 1966. Der macht Stimmengefüge daraus, ablaufend in raschen Vierteln, angereichert mit Tonballungen und schreienden Kulminationen.

Zwei Stücke auf den Text »Magnificat anima mea Dominum ...« erklangen sodann, einmal komponiert von Andrea Gabrieli (1532 - 1585), wunderschön. In drei gemischte Chöre gruppiert, polyphonisierte Univocale völlig unzerknirscht und fand heiter homophon wieder zusammen. Demgegenüber das Magnificat für Doppelchor des Briten Giles Swayne, Jg. 1946), das silbig im Pym-Pom anhebt und verschiedene Polyrhythmica und minimalistische Motive ausspinnt. Eindrücklich der Schluss mit einer weit ausschwingenden Mezzosopransequenz solo.

In anderer Art standen dual zueinander Heinrich Schütz und der Hallenser Komponist Thomas Buchholz (geb. 1961) mit den Chören »Verleih uns Frieden« und »Friede und gute Zeit«. Wieder anders Orlando di Lasso und der Finne Jaako Mäntyjärvi (geb. 1977), der das »Herr, erbarme Dich« auf ein Schiffsunglück hin bogenförmig in Hell-Dunkel-Schichtungen komponierte, gerahmt von ängstlichem Atmen und Flüstern, während der große di Lasso es nicht unterließ, auf »die Marter des anderen mit tausend Stichen in der Brust« die anmutigsten Stimmen zu setzen, als wäre nichts weiter passiert.

Mit der Dualität des Briten Edward Elgar und des Letten Ēriks Ešenvalds (geb. 1966) endete das anspruchsvolle, freilich einer schwülstigen Romantik nicht immer abholde, die experimentelle Chormusik aussparende Konzert.

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