Sigurd Troll
Duisburg, 1937
Ihm gefiel es, Turnvater Troll genannt zu werden, nach Turnvater Jahn, dessen Ermunterung »frisch, fromm, fröhlich, frei« wir beim Geräteturnen immer wieder zu hören bekamen. Viel wussten wir nicht damit anzufangen, aber die vier »f« blieben in uns und spornten uns an. Wir übten am Barren, am Reck, an den Stangen und auf dem Pferd, doch wirklich mochten wir die Waldläufe - sie befreiten uns von der Turnhalle und schickten uns in Richtung »fröhlich und frei«.
Was ich an den Geräten verfehlte, machte ich hier wett, und ich lag auch als Sprinter vorn. Über achtzig und hundert Meter erzielte ich so gute Zeiten, dass sich Turnvater Troll empörte, als mich ein als Sportlehrer hospitierender HJ-Führer aus der Reihe holte und Karl Jülchen gleich mit. »Die beiden Judenjungen lassen wir mal außen vor«, meinte er, »die brauchen sich nicht zu ertüchtigen. Die kommen sowieso nie ran.« Gegen die Aussonderung von Karl Jülchen hatte Troll nichts einzuwenden - Karl war wenig sportlich. Mich aber wollte er für die Sprintstaffel retten.
»Wenn Sie meinen«, sagte der HJ-Führer. »Dann lassen Sie ihn erst mal zeigen, was er am Reck und am Barren bringt.« Ich brachte nicht viel, was meinen Ausschluss aus der Sprintstaffel besiegelte. Turnvater Troll zeigte sich anderer Meinung: »Wer bei Waldläufen vorne liegt und auch sprinten kann, der schafft es schlussendlich auch an den Geräten - punkt!«, sagte er. »Punkt gar nichts«, antwortete der HJ-Führer, »Jud bleibt Jud, da beißt die Maus keinen Faden ab.« Ich begriff nicht, was das mit der Maus heißen sollte, hatte mich aber längst damit abgefunden, ausgesondert zu bleiben. Karl Jülchen flüsterte mir zu: »Lass uns verschwinden.« Ich nickte.
Und dann geschah es: Turnvater Troll stellte sich vor den um zwei Köpfe größeren HJ-Führer, blickte zu ihm hoch und sagte: »Noch bin ich hier der Turnlehrer und nicht Sie.« Der HJ-Führer blickte verdutzt. »Fragt sich nur, wie lange noch«, sagte er. »Ach ja«, sagte Turnvater Troll, aschfahl im Gesicht. Er rieb sich den kahlen Schädel, straffte sich und sagte: »Zwanzig treue Jahre in der Turnbewegung wird man zu schätzen wissen, verlassen Sie sich drauf.« »Man wird sehen«, sagte der HJ-Führer, drehte sich weg und ging.
Ich blieb in der Sprintstaffel. Wie lange das Gymnasium Turnlehrer Troll halten konnte, weiß ich nicht. Denn 1937 war auch das Jahr, an dem Karl Jülchen und ich die deutsche Schule verlassen mussten. Ich wechselte zur jüdischen Schule in Düsseldorf, und Karl Jülchen emigrierte mit seinen Eltern nach Südamerika.
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