Durchs Tor ins Nichts und zurück

Planica: Im Skiflug-Mekka kann heute jeder ein bisschen Luftheld spielen

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 5 Min.

Gerade noch hatte der Reporter zusammen mit anderen Neugierigen eher amüsiert um den Ort des Geschehens herum gestanden. Nun sieht er sich plötzlich an der Reihe und im Mittelpunkt, und es wird ernst. Ein Hupton gibt den Sprung frei: tief in die Hocke, Arme nach hinten, los. Die Ablaufspur rumpelt in den Beinen, Wind rauscht um die Ohren. Der Schanzentisch, gerade noch ganz winzig, wächst urplötzlich wie zu einem riesigen Tor ins Nichts. Absprung gepackt, weite Vorlage, mit den Händen steuern. Dann die Landung, weit vor dem kritischen Punkt, leider sehr gekachelt. Aber hier geht es weniger um Haltung als um Weite. 156 Meter. Bojan Marković, Journalistenkollege und als Stadionsprecher intimer Kenner des Metiers, klopft mir auf die Schulter.

Die Realität hatte den Reporter wieder. In der kam er sich plötzlich ein bisschen albern vor. 156 Meter - das waren zwar hier im Skiflugstadion des slowenischen Planica sogar 32 Meter weiter als DDR-Skisprungstar Helmut Recknagel vor genau 60 Jahren bei seinem Schanzenrekord. Allerdings fand der aktuelle Reportersprung nicht unter freiem Himmel statt, sondern unterm Dach - und zwar auf einer physikalisch wie kognitiv toll ausgeklügelten Trockentrainigs-»Schanze« inclusive ihres riesigen Bildschirms: im Skiflugsimulator des Nordischen Zentrums von Planica.

Dieses Planica, slowenisch übrigens auf dem »i« betont, bezeichnet ein winziges Örtchen und die beeindruckende Schlucht, in der es liegt, im Dreiländereck Slowenien-Österreich-Italien. Die dortigen Julischen Alpen und Karawanken sind zwar mitunter auch sehr schroff, doch irgendwie einladender als beispielsweise die Hochalpen, deshalb wohl für viele leichter und tiefer erlebbar. Das dürfte, so Tomasž Štefe, Kultur- und Tourismusdirektor der Region, ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass sich schon Ende des 19. Jahrhunderts reger Fremdenverkehr zu etablieren begann.

Kranjska Gora, die Großgemeinde hier, ist also längst eine eingeführte Marke. Heute kommen ganzjährig, besonders natürlich im Winter, viele Zehntausende Touristen und Freizeitsportler her. Doch wirklich weltbekannt geworden von Kranjska Gora ist allein der Name Planica. Er steht für die Wiege der wohl spektakulärsten Wintersportdisziplin: Skifliegen.

Im hochmodernen Museumsbereich des heutigen »Nordischen Zentrums« kann man nachvollziehen, wie spektakulär auch seine Geschichte war. Eine erste Skiflugschanze am Osthang der Planica-Schlucht ist 1934 nach Plänen von Stanko Bloudek (1890 - 1959) gebaut worden; hier sprang man weltweit erstmals über 100 bzw. 200 Meter. Dieser Mann, Habsburger Staatsbürger mit tschechischem Vater und slowenischer Mutter, war Multitalent und Energiebündel: Kunst- und Ingenieurstudium, Flugzeug- und Autokonstrukteur, Flieger und Rennfahrer, Eiskunstläufer (Olympiakader 1928, Sankt Moritz), nationaler Meister im Diskuswerfen, während der faschistischen Okkupation Jugoslawiens drei Jahre in Haft wegen Kontakten zum Partisanenwiderstand, später IOC-Mitglied, Präsident des jugoslawischen Olympischen Komitees.

Ein Typ also, der, wie die Skiflieger in der Gilde, zu jenen gehört, die das Leben so sehr lieben, dass sie an seine äußersten Extreme gehen. Wie eben auch DDR-Sportidol Helmut Recknagel, Skisprungolympiasieger von 1960 in Squaw Valley und kürzlich 80 Jahre alt geworden, den das Planica-Museum in Foto und Text dokumentiert. Demgemäß staunte damals die »Süddeutsche Zeitung«, wie der Thüringer im März 1957 auf der Flugschanze »wieder allen davon segelte«, und die »Frankfurter Rundschau« nannte ihn die »kometenhafte neue deutsche Skihoffnung«. Dem »Neuen Deutschland« vertraute er übrigens sein Credo an: »Man muss von sich überzeugt sein, dann gelingt es auch.«

Die legendäre Bloudkova Velikanka (dt. Bloudeks Großschanze) war dann 1959 von einem Neubau abgelöst worden. Viele weitere Innovationen folgten seither. 2015 konnte schließlich das heutige Nordische Skizentrum Planica eröffnet werden. Dazu gehören das Haupt- und Funktionsgebäude, u.a. mit besagtem Skiflugsimulator, aber auch mit zwei Windkanälen für Koordinations- und Steuerübungen. In dem vertikalen werden die Flugeleven samt Ski hinten am Hosenbund in den 120-km/h-Gegenwind gehängt, im horizontalen schweben sie (natürlich ohne Ski) bei 250 km/h frei auf dem Luftpolster. Für noch stärkere Nerven gibt es draußen eine Seilrutsche (engl. Zip᠆lining), die genau über der Fluglinie der großen Flugschanze installiert ist. Ruht dort der Sportbetrieb, kann da jeder runtersausen und sich als Flugstar fühlen, allerdings am Bauch mit zwei Karabinerhaken an der Longe fixiert. »560 Meter lang, 200 Meter Höhenunterschied, bis 90 km/h, ab 25 Euro pro Person«, nennt Vilma Kovačič, eine der Technikerinnen des Zentrums, Parameter und Preis. Wer seine Nerven schonen und etwas mehr für die Kondition tun möchte, kann übrigens die Flugschanzentreppe unterhalb der Seilrutsche hoch und runter laufen. Frau Kovačič spricht vom »härtesten 400-Meter-Rennen der Welt«. Gekostet habe die jetzige Gesamtanlage von Planica übrigens rund 55 Millionen Euro, heißt es, davon sind 85 Prozent EU-Förderung.

In einem viel kleineren Alpental unweit dem von Planica stößt man bergan auf eine bizarre Ansammlung kleiner pyramidenartig geschichteter Steinskulpturen. Eine etwas geheimnisumwobene, vieldeutige Installation, wie Nachfragen bald zeigen. Die Steinzwerge schützen die Liebe junger Paare, sagen die einen, die anderen meinen, sie bewachen den Wasserfall oben im Berg. Wieder andere sehen hier den kleinen Kekec, den slowenischen Kinderkobold, gleich vielfach in die Natur projiziert.

Öfter wird auch gesagt, dass jedes kleine Steintürmchen einem Planicasieger gewidmet sei. Warum eigentlich nicht. Standfest, kämpferisch und selbstbewusst, wie in der Gilde üblich, stehen sie ja da. Wie eine naturkünstlerische Adaption des Credos von Helmut Recknagel vor 60 Jahren - das für ihn übrigens auch noch heute zu gelten scheint.

Infos

Slowenisches Fremdenverkehrsamt in Deutschland: www.slowenia.de

Tourismusamt Kranjska Gora: www.kranjska-gora.si

Nordisches Zentrum Planica: www.nc-planica.si

Winterreiseprogramme u. a.: www.alltours.de

Literatur:

Klaus Scharneitat, »Reiseführer Slowenien«, Trescher, Berlin 2016

Helmut Recknagel, »Eine Frage der Haltung - Erinnerungen«, Das Neue Berlin, 2007

Joachim Hösler, »Von Krain zu Slowenien«, R. Oldenbourg Verlag, München 2006

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