Mit dem Dolch im Gewande

Schon einmal musste Niedersachsens SPD leidvolle Erfahrungen mit Abtrünnigen machen

  • Ulrich Steinkohl, Hannover
  • Lesedauer: 3 Min.

Aufregende Zeiten in Niedersachsen: Eine Abgeordnete der Grünen wechselt mal eben die Seiten und stellt so die politischen Verhältnisse auf den Kopf. Ein einmaliger Vorgang? Nein, schon einmal musste die SPD leidvolle Erfahrungen mit Abtrünnigen machen, die sie die Macht kosteten. Nutznießer auch damals: die CDU.

Es ist der 14. Januar 1976. Der Rücktritt kommt nicht überraschend. Als Alfred Kubel (SPD) mit 66 Jahren freiwillig sein Amt als Ministerpräsident niederlegt, ist sein Nachfolger längst ausgeguckt: Finanzminister Helmut Kasimier (SPD). Doch was als routinemäßige »Wachablösung« (Kubel) gedacht ist, gerät für die SPD und ihren Koalitionspartner FDP zum Fiasko. Auch damals hat die Koalition nur eine Stimme Mehrheit im Landtag - sie wird nicht reichen.

»Lang anhaltender stürmischer Beifall bei der CDU - große Unruhe im ganzen Haus«, vermerkt das Landtagsprotokoll vom 14. Januar. Der Grund für den Tumult: Kasimier hat nur 75 der 78 Stimmen von SPD und FDP erhalten, der CDU-Kandidat Ernst Albrecht alle 77 Stimmen seiner Fraktion. Drei Stimmen sind ungültig. Damit hat keiner der beiden die nötigen 78 Stimmen erreicht. Und dabei sagt Kubel noch am Rande der Abstimmung: »Es ist ein schönes Gefühl, sein Amt bestellt zu haben und zu wissen, dass keiner herumläuft mit dem Dolch im Gewande.«

Bei SPD und FDP setzt hektische Betriebsamkeit ein. Beide Fraktionen machen Probeabstimmungen. Jetzt kommt Kasimier auf alle 78 Stimmen. Doch am Tag darauf folgt die Katastrophe. Wieder wird im Plenum abgestimmt, wieder sind drei Stimmen ungültig. Schon als Landtagspräsident Heinz Müller dies mitteilt, geht ein Stöhnen durchs Parlament. »Von den gültigen Stimmen entfallen auf den Abgeordneten Dr. Albrecht 78...« Weiter kommt Müller wegen des tosenden Beifalls bei der CDU nicht. Kasimier bringt es nur auf 74 Stimmen. SPD-Fraktionschef Bernhard Kreibohm fordert die Abweichler auf, sich offen zu bekennen. »Wer politische und menschliche Solidarität so missachtet, sollte wenigstens die innere Kraft haben, hier zu sagen: Ich bin es gewesen.« Vergebens.

Die Ausläufer des politischen Bebens von Hannover pflanzen sich schnell bis nach Bonn fort, wo ebenfalls eine sozialliberale Koalition regiert. Dort treten die Bundestagsfraktionen von SPD und FDP zu Sondersitzungen zusammen. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) räumt ein, dass die Vorgänge in Hannover die Partei insgesamt in eine »sehr schwierige Lage« gebracht hätten. Er ruft alle SPD-Abgeordneten im Bundestag und in den Landtagen zur Geschlossenheit auf und appelliert an sie, »sich am Riemen zu reißen«.

Albrecht hat zwar die Sensation geschafft, muss nun aber eine Regierung bilden. Doch SPD und FDP entziehen sich beharrlich seinem Werben. So kommt es am 6. Februar im Landtag zum dritten Wahlgang. In der Zwischenzeit hat Kasimier zurückgezogen. Die SPD schickt Bundeswohnungsbauminister Karl Ravens ins Rennen - auch er ist chancenlos. Diesmal erhält Albrecht sogar 79 Stimmen, Ravens nur 75.

Albrecht ist damit erster CDU-Ministerpräsident Niedersachsens. Er bildet zunächst eine Minderheitsregierung, in die ein Jahr später dann doch die FDP eintritt. Für die SPD beginnen 14 harte Jahre auf der Oppositionsbank, von der sie erst Gerhard Schröder mit seinem Wahlsieg im Juni 1990 erlöst.

Bis heute ist nicht bekannt, wer die Überläufer waren, die Ernst Albrecht an die Macht verhalfen. Auch über ihre Motive ist nichts bekannt. Alfred Kubel jedenfalls betrat den Landtag acht Jahre lang nicht mehr: »Ich wollte nicht unbewusst einem Verräter die Hand geben müssen«, sagte er. dpa/nd

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