Avantgarde und Populärkultur

Mit dem Beginn der Farbära wurde das Fernsehen endgültig zum Leitmedium

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gab Zeiten, in denen war das Fernsehen ein sehr öffentliches Medium, gerade weil es nur wenige TV-Geräte und Sendungen - meist waren dies Nachrichten - gab. 1954 wurden in Westdeutschland gerade einmal 80 000 Fernsehgeräte verkauft, mit denen man auch nur ein einziges Programm empfangen konnte. Dieses Programm, das von der ARD ausgestrahlt wurde, lief am Tag nur wenige Stunden. In der DDR sah es ähnlich aus. 1952 konnten in Ostberlin gerade einmal 60 TV-Geräte ab 20 Uhr für zwei Stunden ein Programm empfangen, 1958 gab es in der ganzen DDR 300 000 Fernsehgeräte; im Westen eine Million.

Wer also Fernsehen schauen wollte, musste ein sehr soziales Wesen sein: Er musste dies bei Nachbarn, Verwandten oder Freunden tun. Fernsehen war allerdings vornehmlich eine Beschäftigung der eher kleinbürgerlichen Schichten. Akademisch gebildete Kreise verdächtigten das Medium von Anfang an, dem besinnungslosen Amüsement ergeben zu sein - und sie sahen sich in diesem Ressentiment bestätigt, als zu den Anfangszeiten des Mediums Hinz und Kunz sich vor den Fernsehgeschäften drängten oder sich in die Arbeiter- und Bauernwohnstuben zwängten, um das Endspiel der Fußball-WM 1954 oder - ein Jahr zuvor - die Krönung von Queen Elisabeth II. live zu verfolgen. Wer sich abgrenzen wollte von den Massen, aber dennoch eines dieser klobigen TV-Geräte besaß, versteckten dieses eher, als es stolz etwaigen Besuchern zu präsentieren.

Erst allmählich freundete sich auch das Bürgertum mit dem neuen Massenmedium an. Als ab 1964 Hans-Joachim Kulenkampff die Quizsendung »Einer wird gewinnen« (EWG) moderierte (das Format wurde mit Unterbrechungen bis 1987 ausgestrahlt) und die Kandidaten zum Beispiel angeben mussten, ob korrespondierende Röhren zur Physik oder zu den Gesellschaftswissenschaften zählen, war das Fernsehen auch beim Bildungsbürgertum wohl gelitten, EWG war ein Bildungsauftrag an die ganze Familie und der gelernte Theaterschauspieler Kulenkampff eine unumstrittene Autorität.

Ab 1967 sendete das Fernsehen in Westdeutschland auch in Farbe (die DDR folgte zwei Jahre später). Damit wurde der Bildschirm nicht nur bunt, er erzeugte jetzt auch den Schein von Authentizität; was vorher Grau in Grau über den Bildschirm flimmerte, war jetzt sozusagen »in echt« zu sehen. Farbfernsehen nahm die virtuelle Realität des Computerzeitalters vorweg.

Mit dem Beginn des Farbära wurde das Fernsehen Leitmedium - und damit für die Wissenschaft interessant. Studien über die Schädlichkeit des TV-Konsums wurden erstellt und Warnungen ausgegeben. Bis heute sind mehr als 5000 Studien erschienen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Sehgewohnheiten und sozialem Verhalten beschäftigen. In den 1980er Jahren hieß es beispielsweise in einer Langzeitstudie von Forschern der Columbia University (USA), dass exzessiver Fernsehkonsum zu antisozialem Verhalten führe, und 2002 meinten Wissenschaftler der gleichen Universität, dass in der Gruppe der Vielseher mit mehr als drei Stunden Fernsehen täglich fünfmal mehr Personen Gewalttaten verübten als in der Gruppe der sparsamen Gucker, die weniger als eine Stunde pro Tag vor dem Fernseher verbringen. Dass Kinder, die eine problematische Beziehung zu ihren Eltern haben, wenige Freundschaftsbeziehungen zu Gleichaltrigen pflegen und in einem gewalttätigen Umfeld mit wenig Bildungsanreizen aufwachsen, nebenbei auch noch viel fernsehen, ist noch kaum einem der Forscher aufgefallen.

In Zeiten, in denen in vielen Haushalten der Fernseher zum Hintergrundrauschen des Familienalltags gehört, fast jeder Haushalt mindestens ein TV-Gerät besitzt und dutzende Kanäle rund um die Uhr das Publikum berieseln, verliert das Medium Fernsehen seinen wissenschaftlichen Reiz - die akademischen Mahner haben sich heute den Video- und Computerspielen zugewandt. Erregten früher Krimis oder Wildwest-Filme die wissenschaftlichen Gemüter, tun dies heute Spiele wie »Call of Duty« oder »Grand Theft Auto«.

Und gerade in solchen Spielen verschwimmt zusehends die Grenze zum klassischen Fernsehen. Die Spiele erzählen wie einst der Film oder die TV-Serie Geschichten; im besten Fall geht es bei ihnen um das, was das Fernsehen einst ausmachte: um die Vermischung von Avantgarde und Populärkultur.

Um die Zukunft des Fernsehgeräts ist es dagegen eher schlecht bestellt. Der Kasten, der früher mit dem TV-Tisch sein eigenes Möbel bekam, ist nur noch ein Empfangsgerät unter vielen. Fernsehen kann man heute auch am Tablet und am Smartphone.

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