Europas next Topmodel

Bei der Attac-Sommeruniversität beratschlagen Aktivist_innen, wie ein antikapitalistisches Europa aussehen kann

  • David Gutensohn
  • Lesedauer: 4 Min.

Die pralle Mittagssonne spiegelt sich in den Fensterscheiben. Drinnen sitzt Tom Kucharz, Podemos-Aktivist aus Madrid, und wedelt mit einem aus Flyern gebastelten Fächer. Es ist stickig, das Reservoir an Übersetzungsgeräten ist erschöpft. Gleich zu Beginn der Europäischen Sommeruniversität der sozialen Bewegungen geht es um ein heikles Thema: »Haben wir versagt?«

Für das diesjährige Klassentreffen von Aktivisten und Aktivistinnen ist auch Sol Sanchez, Abgeordnete und Sprecherin der Vereinigten Linken Madrids, angereist. Gemeinsam mit Kucharz nutzt sie den Raum, um über die begrenzten Möglichkeiten der Arbeit in den Institutionen zu klagen: »Es herrscht Frustration. Gleichzeitig einen Fuß auf der Straße und im Parlament zu haben, ist enorm schwierig.« Kleine Fortschritte gäbe es zwar, so kommt in Madrid die Stadtverwaltung der linken Liste »Ahora Ma-drid« (Madrid Jetzt) beim Schuldenabbau mit großen Schritten voran - und zwar ohne Kürzungen im sozialen Bereich. Mit vielen Vorhaben beißen die sogenannten Munizipalisten - Aktivisten und Aktivistinnen, die in Stadtparlamente gewählt wurden - jedoch auf Granit. Ein Prozess, der sich in vielen Ländern beobachten lässt.

Zoe Konstantopoulou ergreift das Wort, um aus Athen zu berichten. 2015 war sie als Vertreterin der linken Syriza-Bewegung zur Präsidentin des griechischen Parlaments gewählt worden. Als ihre Partei trotz des klaren Volksentscheids der Bürger dem Sparkurs zustimmte, legte sie ihr Mandat nieder. »Syriza hat die Bewegungen verraten«, so ihr Vorwurf. Hätte es nicht die Massendemonstrationen gegen TTIP und G20 gegeben, so müsste sich Europas Linke ein desolates Zeugnis ausstellen. Austerität, Brexit, Macron, das ist die Realität.

Nach Saarbrücken, Freiburg und Paris treffen sich die Aktivisten in diesem Jahr in der Jean-Jaurès-Universität von Toulouse. Die Auswahl des Ortes entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Einst galt der Namensgeber der Universität als einer der bekanntesten sozialistischen Politiker Frankreichs. 1902 gründete er gemeinsam mit anderen Reformsozialisten einen Vorläufer der Parti Socialiste. Heute ist die französische Linke gespaltener und kraftloser denn je. Europaweit sind der identitäre Nationalismus und die neoliberale Globalisierung auf dem Vormarsch.

So läuft auch in Toulouse die Suche nach Auswegen auf Hochtouren. Neben der erwartbaren Planung von Aktionen zu den kommenden WTO- und G20-Gipfeln sowie dem Weltsozialforum in Südamerika arbeiten die Besucher der Sommeruni an einer gemeinsamen europäischen Vision. Unter der Leitung von Akteuren wie Attac, Global Justice Now, Greenpeace und der Rosa-Luxemburg-Stiftung finden zahlreiche Workshops, Diskussionen und Seminare zur Zukunft des Kontinents statt. Über 100 Bewegungen sind mit an Bord.

Auch Tom Kucharz bringt sich in die Debatte ein: »Wir brauchen ein antikapitalistisches Europa der Solidarität!« Im Laufe der fünf aktivistischen Tage in Toulouse wird dieser Allgemeinplatz zum Glück noch konkretisiert werden. Ein europäisches Grundeinkommen, ein Mindestlohn für alle Mitgliedsstaaten oder die effektive Kontrolle der Banken - die Ideen reichen bis hin zu einer europäischen Arbeitslosen-, Gesundheits- und Pflegeversicherung. Die Visionen zeichnen einen Kontinent ohne Grenzschutz und mit einer friedlichen gemeinsamen Außenpolitik. Finanziert und organisiert von einer demokratisch gewählten Europa-Regierung. Durchgesetzt durch eine gemeinsame Kontinentalbewegung. Ein kleiner Hauch von einer linken Variante des Pulse of Europe weht durch Toulouse. »Es muss ein Ende haben, dass nur die extreme Rechte von der Krise des ›Euro-Establishments‹ profitiert«, fordert Yannick Jadot, Umweltaktivist und Abgeordneter des Europaparlaments.

Gleichzeitig offenbaren sich in Toulouse die Schwierigkeiten pluralistischer Bewegungen. In einer Veranstaltung mit dem Titel »Europa jenseits der EU« treten Kontroversen auf. Jonathan Krämer, Initiator der österreichischen Pulse-of-Europe-Bewegung warnt: »Wir müssen die EU als Oberbau erhalten, aber grundlegend verändern«. Das sehen die Anhänger von Jean-Luc Mélenchon - linker französischer Kandidat bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen - anders. Sie wollen die EU komplett abschaffen und dann etwas völlig Neues bauen, während viele spanische Aktivisten ein Europa der Regionen kreieren möchten. Es folgt eine lange Debatte. In einer Sache sind sich alle Teilnehmenden einig: Es muss mehr Europa geben. Einzig über das »Wie« herrscht Uneinigkeit.

Einen konkreten Weg will demnächst Attac Österreich aufzeigen. Dafür wird die Aktivistengruppe in zwei Monaten ein Buch mit Analysen und Alternativen veröffentlichen. Auch die deutsche Attac-Bewegung will einen Diskussionsprozess starten und 2018 einen Europakongress organisieren. Auf Antrag der Regionalgruppe aus Freiburg soll dieser dazu genutzt werden, im Jahr des 20. Geburtstags der Globalisierungskritiker konkrete europaweite Kampagnen zu entwickeln. »Vielleicht können diese in eine gemeinsame linke Alternative zur Europawahl 2019 münden?«, fragt sich Tom Kucharz.

Maria Wahle aus der deutschen Attac-Bewegung glaubt jedoch nicht an eine linke Einheit. »Wichtig ist, dass sich autonom agierende Organisationen untereinander vernetzen. Daran glaube ich eher als an etwas Großes, das in der Masse funktioniert«, erläutert sie. Die Frage, wie das solidarische Europa der Zukunft aussehen kann, wird die Aktivisten also in nächster Zeit ebenso intensiv beschäftigen müssen wie strategische Fragen.

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