Die Kassette kommt wieder

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 3 Min.

»Sammelst du Weltraumschrott?«, fragt mein Nachbar, als er mein großes Zimmer betritt. »Das ist meine 90er-Jahre-Ecke«, sage ich stolz und zeige auf das rustikale Regal aus Resten von Ytongsteinen. Die lagerten ein skandalöses Dreivierteljahr auf dem Korridor und warteten auf die Verwertung für was auch immer, bis ich vor einigen Tagen auf die Idee kam, daraus ein Regal für die Magnetbandkassetten zu schustern. »Sieht doch gut aus, oder?«, fordere ich etwas Begeisterung. »Außerhalb jeder Wertung«, sagt er.

Mit so einem halben Dutzend Plastiktürmen aus Musikkassetten, nahezu in Hüfthöhe, schindet man Eindruck, allerdings keinen zeitgemäßen. Doch solange das vor einem Vierteljahrhundert angeschaffte Doppeldeck zumindest teilweise funktioniert, gibt es keinen Grund, diese Tonträger zu entsorgen. Und selbst wenn der alte Leiermann aus dem Hause Universum nichts mehr von sich hören lässt, werde ich in einer An- und Verkaufsrumpelkammer nach würdigem Ersatz forschen.

»Und wenn sich keiner findet, entsorgst du endlich alle«, hakt der Nachbar hämisch nach. »Nein. Ein Teil der Kassetten wird eingerahmt und an die Wand gehängt.« Die in den letzten drei Jahren gekauften Kassetten sind schon deshalb legendär, weil es sich um Neuproduktionen handelt: Zucker aus Konvention, Roiber & Gendarm, Pussy Riot. Und die geerbten Teile von Gunter Gabriel bis Tony Marshall sorgten über zwei Jahrzehnte für gute Laune.

Ich halte einige Gebrauchsgegenstände in Ehren, so muss ich seltener zum Friedhof, das sagt mir mein Heidenverstand. Und dann erst die selbst aufgenommenen Kassetten, samt der gebastelten Collagen mit den legendären Karikaturen und Künstlerfotos! Das ist die Alltagskultur von damals, die zum Großteil vor dem Millenniumwechsel auf den Müllhalden verendete. Ich werde nur einen kleinen Teil entsorgen, den ich ohnehin auf CD und Vinyl habe. Aber modernere Tonträger kommen mir nie in den Haushalt. Meine charismatisch-handschriftlichen Titellisten jedenfalls waren damals wie heute dufte. Es heißt, der Mensch verändere seine Handschrift niemals. Wobei ich finde, das meine heutige Schreibe etwas krakeliger rüberkommt. Ich bin wohl zu tastaturgeschädigt, vielleicht sogar schon in der ersten Gichtphase.

»Mein Gott, was du alles hörst!« - »Ja, davon soll meine Nachbarschaft was haben.« Einige schräge Hitparaden längst untergegangener Sender sind dabei. Damals schienen uns einige Radiomenschen ihre putzige Version von Jugendsprache unterjubeln zu wollen, nach der wir ihre Songs »mitschnitten«. So haben wir aber weder geredet noch geschrieben.

Mein Nachbar mustert einige Titellisten und scherzt: »Du wolltest wohl Schallplattenunterhalter werden, mit Kassetten, als alle anderen schon mit CDs arbeiteten?« - »Ja, war aber noch zu früh für die Kassettennostalgie. Vielleicht demnächst.«

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