Herr Murphy, mein Freund Deniz und ich

Konzert von LCD Soundsystem in Berlin

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Zeit vergeht nicht, ohne ihre Spuren zu hinterlassen. Weswegen wir mittlerweile alle drei ein kleines Bäuchlein haben: Herr Murphy, mein Freund und ich. Wir sind auch alle ungefähr gleich alt. Sofern man es mit den jeweils zwei, drei Jahren Unterschied zwischen uns nicht so genau nimmt.

Herr Murphy macht seit der Jahrtausendwende kritische, tanzbare Popmusik über dies und das. Mein Freund schätzt tanzbare Popmusik und schreibt kritische Zeitungsartikel über dies und das. Auch ich selbst mag Musik, meinen zuweilen recht engagiert tanzenden Freund und dies und das. Kurz: Uns drei verbindet einiges: das Bäuchlein, das Alter, die Beschäftigung mit Musik, das Tanzen, das Nichteinverstandensein und dies und das.

Vorgestern trat Herr Murphy nach einer längeren Bühnenabstinenz mit seiner Band zum ersten Mal seit sieben Jahren in Berlin auf, in Oberschöneweide, im Konzertsaal des ehemaligen DDR-Funkhauses, einem der schönsten Räume Deutschlands: gebaut in den 1950er Jahren, mit einer Decke, so hoch, dass man sie mit bloßem Auge kaum noch erkennen kann, alle Wände komplett holzverkleidet, Parkettboden, alles, wohin man schaut, ein einziges innenarchitektonisches Design-Gesamtkunstwerk des Sozialismus, als dieser noch Geld hatte und es für schöne Dinge ausgegeben hat, die der Menschheit helfen sollten, zu einer besseren zu werden.

Herr Murphy heißt mit Vornamen James und ist New Yorker. Er hat vor 15 Jahren die Popmusik revolutioniert, indem er Disco und House mit dem Punk und Selbstironie und Glamour mit dem Nichteinverstandensein verschmolz. Seine Gruppe heißt LCD Soundsystem.

Mein Freund, von dem hier die Rede ist, heißt Deniz Yücel. Er arbeitet als Reporter für eine deutsche Tageszeitung. Ich hätte ihn gern dabeigehabt vorgestern, in einem der schönsten Räume Deutschlands, tanzend zu einer Musik, die so gut zu ihm passt und die er so mag. Doch mein Freund weiß nicht einmal, dass Herr Murphy nach vielen Jahren eine neue Platte gemacht hat.

Denn er sitzt, ohne dass es überhaupt eine Anklage gäbe, unter erbärmlichen Bedingungen in der Türkei in Isolationshaft, in einer Zelle, die weder eine hohe Decke hat noch einen Parkettboden und die gewiss auch kein Design-Gesamtkunstwerk ist. Er sitzt dort seit 200 Tagen, weil er im Rahmen seiner Arbeit als Journalist kritisch über die Umtriebe und Machenschaften des gegenwärtigen türkischen Staatspräsidenten berichtete. Doch in der Türkei gilt das als ein Verbrechen. Herr Erdogan, so ist zu vermuten, wird eines der erfolgreichsten Stücke von LCD Soundsystem, »Losing My Edge«, nicht kennen. Er weiß es nicht, aber: In dem Stück ist unter anderem auch von seiner Zukunft die Rede. »I’m losing my edge to better-looking people / With better ideas and more talent / And they’re actually really, really nice«, singt James Murphy da.

Auf dem Synthesizer, der am Montagabend beim Konzert von LCD Soundsystem in Berlin-Oberschöneweide ganz vorne am Bühnenrand stand, war ein Wort in Großbuchstaben zu lesen: »RESIST«.

Sonntag, 10.September., »Korso zum Kanzleramt«, Auto- und Fahrradkorso, danach Kundgebung für die Freilassung von Deniz Yücel, Mesale Tolu und Peter Steudtner. Treffpunkt: 12.30 Uhr, Kino International, Karl-Marx-Allee 33, Berlin.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -