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Die Fragen offen und ungelöst

Gerd Koenen hat ein monumentales Werk über die Ursprünge und die Geschichte des Kommunismus verfasst

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Kommunismus. Traumspiel ohne Grenzen. Geistiger Wärmestrom gegen die praktische Raserei der konkurrierenden Zwecke. Es ist in diesem Buch obsessive Fantasie, nahezu erotische Zukunftsumarmung, kämpferische Emphase. Und Vergewaltigung. Gerd Koenen beschreibt Werden, Wirken, Wüten, Wanken und letztliches Weichen einer Idee, einer Macht: »Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus«.

Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus.
C. H. Beck, 1133 S., geb., 38 €

Koenen schreibt vor allem eine Geschichte der Sowjetunion, und er schreibt sich zu den Quellen hin, zu Marx und Engels, aber ebenso zu Denkern und Avantgardisten, die auf Vorfeldern Idee und Impuls gaben. Von Platon bis Adam Smith, von Spartakus bis Müntzer, von der Bibel bis zu August Bebel. Der Autor gesteht, den Versuch seiner Universalgeschichte »ziemlich freihändig« unternommen zu haben, entstanden sei »kein gelehrtes Werk im Sinne methodischer Forschung«, denn »niemand ist Spezialist für Weltgeschichte«. Zum Glück! Die Kühle des Historikers begegnet der Fühlung des Schriftstellers. Koenen beendet viele seiner Sätze mit einem Fragezeichen.

Deutlich wird: Die Wirkungskraft etwa des Marxismus lag im Angebot einer Praxis, als das Christentum sämtlicher Kirchenversionen bloß noch eine Lippengebetsreligion war, zur Ertötung aller realen Bedürfnisse - der Unteren, Schwachen. Klassenkampf, Partei, das Gesetz der Geschichte - Worte wie Injektionen, die zum verführerischen Rausch führten, alles auf einen Begriff zu bringen. Hohe Idee und irdische Existenz als Einheit? Eine großartige Vorstellung, weil sie über das geringe Dasein hinausführt und »die Tragödie der Einsamkeit« (Bloch) beendet.

Aber hier lag auch der Kern des fatalen kommunistischen Überlegenheitsgebarens. Das eine Utopie zu Parteitagsbeschlüssen versklavte. Koenen beschreibt, wie Moskau ein Rom wird, er porträtiert Lenin und beschreibt dessen »absolute Unbeirrbarkeit, politische Schroffheit, beleidigende Grobheit«. Stalin war nicht Verderber von dessen Ideen, sondern die Konsequenz.

Aber trotz dieser großen Erzählung über die »totalitären Überspanntheiten« von Europa bis China widerspricht Koenen der Gleichsetzung von brauner und roter Diktatur. In der Berufung auf edelste Menschheitsziele, die im opferreichen Krieg gegen den Faschismus verteidigt wurden, liegt jene Tragik, die aus berechtigten Anklageschriften gegen das stalinistische Weltsystem nie zu tilgen sein wird. Und die eine differenzlose Gleichsetzung mit nazistischem Unmenschentum untersagt. Es ist einer der tödlichsten Widersprüche der kommunistischen Bewegung, den das Buch aufdeckt: einerseits diese messianisch befeuerte Überzeugung, die Geschichte sei Genossin und eile unter Führung der Roten freudig zum bestmöglichen Weltzustand, aber andererseits diese wachsende Gewissheit, keinen wirklichen Rückhalt in den Massen zu besitzen und daher die Instrumente der Einschüchterung, der Vergatterung und der blutigen Gewalt einsetzen zu müssen. Und dies trotz beweiskräftig menschendienlicher Leistungen auf vielen Gebieten.

»Du schließt die Augen und schaust in die Sonne, und durch deine Lider hindurch siehst du die Farbe deines Blutes - ein Karminrot. Dies ist die Farbe deiner leiblichen Existenz.« So beginnt dieses Buch. Koenens Schreiben hat Kraft, Stil, Farbe. Er ist inspiriert von Literatur, fühlt mit Ohnmächtigen, hat ein Herz für den Aufstand, aber er bleibt scharf in der Absage an proletarische Eliteverachtung, an Doktrin und Blutzoll. Es ist eine Absage an jenen Gesinnungstrotz, der in Revolutionen nur freudig die Kraft des Vorlaufs erblickt, aber kaum gepeinigt wird von der anderen Wahrheit: der Herrschaft des Gewehrlaufs.

Koenen kennt, worüber er schreibt. Er war Mitglied des westdeutschen Kommunistischen Bundes. An den ideologischen Fanatismus in seinem eigenen »langen roten Jahrzehnt« denkt der Publizist und Historiker mit einem grandios bitteren Buchtitel von Herta Müller: »Gestern wäre ich mir lieber nicht begegnet.«

Wenn Geschichtsschreibung eine Pflicht zum Ausblick hat, so besteht die nicht in Benennung dessen, was wir erwarten dürfen, wohl aber in dem, womit wir rechnen müssen. Bei Koenen heißt das: Der Kommunismus ist als »normative Vorstellung und politische Bewegung nicht wiederzubeleben.« China? Ist rote Regie - aber stahlharter Kapitalismus.

Im Zorn gegen die Unerträglichkeit des gegenwärtigen Weltzustandes »der sozialen Entbindungen« keimen zwar neue Spannungen zwischen Exzess und Vorsicht, aber dass irgendeine sozialistische »Weltevolution« die krisen- und kriegsschürenden Verhältnisse bräche, ist nicht nur unwahrscheinlich, »es ist nach allen Erfahrungen nicht einmal zu wünschen«.

Koenens Skepsis »gegen alle Vorstellungen eines ideengeleiteten Handelns« überzeugt, weil es ein Zweifel des Schmerzes ist - denn freilich sind viele der Fragen, die Kommunisten vor 150 Jahren stellten, »so offen und so ungelöst wie eh und je.« Just in unserer westlichen Welt, die zum »sarkastischen Gegenbild« der »Ideologisierung und Moralisierung« in den Erziehungsdiktaturen wurde. Reizt das nicht doch wieder, eine radikale Alternative zu träumen?

Jede Utopie ist ein gedanklicher Überschuss unseres Bewusstseins, der sich am Elend der Systeme entzündet. Dieses Elend wächst - was nur macht den Kapitalismus so haltbar? Der ja dem »Zugriff politischer und gesellschaftlicher Instanzen und dem seiner Macher weitgehend entzogen« scheint.

Vielleicht ist der Kapitalismus inzwischen - so merkt Gerd Koenen fragend an - weit schwerer zu erklären als der Kommunismus.

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