Vom Lieben und Töten

Jenseits von Schrecken und Perversion: Eine Neuaufstellung der Mensch-Tier-Verhältnisse ist, wenn wir unsere Menschlichkeit behaupten wollen, dringender denn je

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 5 Min.

Alle reden über den Wert des Fleisches. Endlich, denken sich manche, die schon seit jeher aus Gründen der Ethik oder des Klimaschutzes darauf verzichten. Aber genügt eine Diskussion über höhere Mehrwertsteuerpunkte? Wer das Thema ernsthaft angehen will, muss tiefer schauen und sich einer schmerzhaften Realität stellen, jener der Tiere in unserer Gesellschaft. Welches Wesen nicht das Glück hat, als Hund oder Hamster geboren worden zu sein, gerät mitunter in einen industrialisierten Mast- und Schlachtbetrieb. Abgeschirmt vom Verbraucher muss der die Schreie der Schweine vor der Vergasung, die Bilder von geschredderten Küken oder den qualvollen Anblick der Tötung einer noch schwangeren Kuh nicht wahrnehmen. Er muss all das Blut nicht sehen, kann Angst, Trauer und Ohnmacht der Schutzlosen aus seinem Sichtkreis verdrängen. Wie praktisch, dass das steril abgepackte Fleisch nicht mehr an eine lange Leidensodyssee erinnert. Da ist die Grausamkeit und Gewalt dennoch, so immens, unfassbar und kalt automatisiert wie noch nie zuvor.

Dass wir die einen lieben und die anderen verspeisen, bezeichnet der Tierethiker Gary Steiner als »moralische Schizophrenie«. Die westliche Gesellschaft trennt zwischen »Nutztieren« und jenen, die zu Gefährten auserkoren werden, wobei auch letzteren wenig Freiheit zukommt. Sie werden zur Projektionsfläche, werden anthropomorphisiert und einer eigenen Geschichte beraubt, weil sie zu quasi-Menschen gerieren. Man braucht nur nachmittags eine der unzähligen Wohlfühl-Zoosendungen einzuschalten, um etwas über faulenzende Affen und an Fußpflege interessierte Elefantendamen zu erfahren. Kurzum: Dem Animalum wird, ob als Dekor, Freund oder Teil der Produktionsmaschinerie, sein Recht auf Selbstbestimmung, ja, sein Recht auf sein Anderssein, verwehrt.

Dabei wissen wir durch die Neuroforschung schon längst, über welche Intelligenz unsere nichtmenschlichen Erdenbewohner verfügen, welche Gefühle der Freude wie der Verzweiflung sie entwickeln können. Sind uns Tiere näher oder ähnlicher als wir denken, so erfordert dies ein Umdenken. Jahrhundertelang haben Theoretiker von Descartes bis Kant dafür gesorgt, die Ungleichheit zwischen den Spezies einzuzementieren. Da die Tiere, vereinfacht gesagt, nicht über unseren Bewusstseinsgrad verfügten, dürften sie nicht unsere Privilegien genießen. Ihnen fehle es an Selbstwahrnehmung, an Zukunftsperspektive, an Erinnerungsvermögen, an einem Verständnis für Vergänglichkeit und Tod, an Menschlichkeit. So wurden Selektionskriterien fixiert, die einer faschistischen Denklogik nicht fern stehen. Fehlende Eigenschaften als Voraussetzung für Gefangennahme und Tötung - ein durch und durch gefährlicher Ansatz, der sowohl die Sklaverei als auch die Unterdrückung der Frau lange Zeit legitimierte, was sich gar in einer ähnlichen Ikonografie widerspiegelte: Man erinnere sich noch an das Plakat zur Abtreibungsdebatte mit dem Spruch »Mein Bauch gehört mir«. Eine bekannte Tierschutzorganisation hat sich dieses Motto zueigen gemacht und ein Plakat mit einem Schwein überschrieben mit »Mein Fleisch gehört mir«.

Erst die Utilitaristen brachten dieses Argumentationsgebäude ins Wanken. Singer, der radikalste unter ihnen, fragte gar provokativ, ob, wenn allein der Bewusstseinsgrad ausschlaggebend sei, denn nicht auch geistig Behinderte oder Kinder denselben, reduzierten Status wie Tiere einnehmen sollten. Jene Provokation hat eines deutlich gezeigt: Eigenschaften - ob innerhalb oder zwischen Spezies - sollten niemals über das Lebensrecht eines Wesens entscheiden. Zumal bereits der Standpunkt, von dem aus die wertvollen und weniger wertvollen Charakteristika bestimmt werden, höchst fragwürdig erscheint. Denn ist es ferner legitim, das logische Denkvermögen des Menschen über die Fähigkeit eines Chamäleons, seine Hautfarbe verändern zu können, zu stellen? Warum sind nicht die acht Augen einer Spinne oder deren Fertigkeit, nahezu unzerstörbare Fäden produzieren zu können, der Maßstab, sondern immer wieder Abgrenzungsmerkmale wie menschliches Todesbewusstsein und Zukunftsorientierung entscheidend?

Erkennt man diese Einwände gegen die Domestizierungs- und Tötungspraxis an, stellt sich unmittelbar die Frage nach juristischer Gleichstellung. So folgte der Tierschutz- die Tierrechtsbewegung. Streitend für einen Egalitarismus zwischen Humanum und Animalum. Äquivalent zu den Menschenrechten müsse es einschlägigen Theoretikern zufolge unveräußerliche Schutzrechte für nicht-menschliche Mitwesen geben. Zum Beispiel das Verbot des Tötens, des Schlagens, der Domestizierung, der Fremdbestimmung oder der Ausbeutung. Kurzum: Tiere müssten über Selbstbestimmung und letztlich über Würde verfügen, wie sie fortschrittlich - zumindest als Norm - in der Schweizer Verfassung festgeschrieben ist. Allerdings würde sich die Kuh dann wohl kaum dafür entscheiden, permanent für unseren Konsum schwanger zu sein oder sich nach der Geburt ihr Kind wegnehmen zu lassen. Dasselbe gilt wohl für Hühner und ihre Eier. Spinnt man die Tierrechtsphilosophie fort, liefe sie auf eine Trennung der Mensch-Tier-Kontakte hinaus, was vielen zu weit gehen dürfte. Der Ansatz ist moralisch geboten und klar. Denn wer die fehlende Machtlegitimation des Menschen einsieht, wird die Notwendigkeit einer juristisch gerechtfertigten Befreiung der Tiere nicht anzweifeln. Aufgrund der Radikalität dieser Denkrichtung konnten deren Ansprüche bis heute kaum gesellschaftliche Akzeptanz finden.

Tierethische Diskussionen spielten sich beklagenswerterweise fast ausschließlich in akademischen Kreisen fernab der gesellschaftlichen Mehrheiten ab. Die Emanzipationsbestrebungen müssen angesichts der heute ernüchternden Sachlage wohl als insgesamt gescheitert angesehen werden. Was bleibt also? Am Ende wohl doch die Erkenntnis, dass die Verbesserung der Mensch-Tier-Beziehungen eines pragmatischeren Weges bedarf. Verbraucherappelle gehen noch immer ins Leere, und leider wird die Ernährungsumstellung auf Vegetarismus und Veganismus von vielen belächelt oder als Angriff auf die Freiheit gewertet. Dabei sind sich alle zumindest einig, dass Tiere nicht unnötig leiden sollen. »Zoopolis«, ein Essay von Sue Donaldson und Will Kymlicka, schlägt eine Neuordnung der Verhältnisse vor, wobei die US-Autoren prinzipiell davon ausgehen, dass sie auf einem Zusammenleben von Mensch und Tier basieren müssen. Alles andere sei utopisch. Dazu entwickeln sie eine Art Staatstheorie. Während jene Wesen, die zur Landwirtschaft gehören, über eine Art von Bürgerrechten verfügen, das heißt unseren Schutz und unsere Achtung - vor körperlicher Unversehrtheit - genießen sollten, könnten Bewohner des Waldes wie Menschen auf exterritorialem Gebiet behandelt werden. Wir sorgen uns nicht um sie, aber tun ihnen auch nichts an.

Alles nur Utopie? Ja, durchaus. Ihr wohnt allerdings auch die pragmatische Einsicht inne, dass eine Kappung der Beziehungen zwischen Mensch und nicht-menschlichen Wesen nicht einmal annähernd von einer gesellschaftlich repräsentativen Gruppe umgesetzt werden könne. Stattdessen gelte es eher die Frage nach dem Wie des Zusammenlebens zu stellen. Könnte diese Vorstellung ein Potenzial zur Annäherung momentan verfeindeter Lager bieten? Denkbar wäre es. Zumindest ermöglicht ein solches Denken den ersten Schritt zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, der Menschen wie auch Tieren zugute käme.

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