Fernsehjagd auf echte Verbrecher

50 Jahre »Aktenzeichen XY ... ungelöst« im ZDF

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Es gibt Figuren aus grauer Röhrenvorzeit, die selbst in der bunten Flatscreen-Gegenwart noch Begriffe sind. Der nationalsozialistische Werner Höfer im Dunst internationaler Journalisten zum Beispiel, der professorale Robert Lembke vorm klimpernden Schweinderl. Und natürlich Eduard Zimmermann - das Telefon aus Bakelit zur Rechten, ein Sperrholzschild mit »Aktenzeichen XY ... ungelöst« dahinter, die Kamera fest im Blick, um seiner Passion, besser: Obsession, nachzugehen: Kriminelle jagen.

Am 20. Oktober 1967 spannte der Moderator sein Publikum erstmals zur interaktiven Polizeiarbeit ein. Drei Jahre zuvor hatte »Ganoven-Ede«, wie der verurteilte Schwarzhändler des zerstörten Reichs in der jungen Republik bald hieß, zum Halali auf »Nepper, Schlepper, Bauernfänger« geblasen. Bei »XY« aber waren die wirklich schweren Jungs dran: Totschläger, Kindesentführer, Raubmörder, die vor allem. »Den Bildschirm zur Verbrechensbekämpfung einzusetzen«, sagte Zimmermann zur ZDF-Premiere, »ist der Sinn unserer neuen Sendereihe.« Und zwar ein überaus erfolgreicher. Denn Deutschlands ältestes Reality-Format gibt’s noch immer.

Die Telefone sind nicht mehr klobig, sondern mobil. Statt Holzschildern gibt es Monitorwände. Und der Kamerablick von Zimmermanns Nachfolger Rudi Cerne wirkt mindestens fünf Generationen lockerer als beim Urvater der Wirklichkeit nach Drehbuch. Stilistisch hat sich zum Jubiläum also vieles geändert. Inhaltlich aber ist der Dauerbrenner ziemlich nah am Original. Noch immer nämlich wird die Welt da draußen in drei, vier Crime-Clips zum Szenario dauernder Todesgefahr verdichtet.

Wer die 523 Sendungen für ein Abbild der Wirklichkeit hält, könnte meinen, das Land werde vom Verbrechen regiert. Die Zahl der Kapitalverbrechen mag ungeachtet seltener Ausschläge nach oben seit Jahrzehnten abnehmen; besonders die telegene XY-Standard-Untat »Kindesmissbrauch« entfernt sich entgegen der drastisch erhöhten medialen Aufmerksamkeit stetig von den Spitzenwerten vermeintlich sittsamerer Zeiten. Nie gab es weniger Mord und Totschlag, nie weniger Sexualdelikte und Jugendgewalt in Deutschland als heute. Doch »XY« malt weiter am Zerrbild dauernder Gefahr für Leib und Leben, vornehmlich bei Frau und Kind.

Gewiss, jede Misshandlung Minderjähriger ist eine zu viel, von Tötungsdelikten aller Art ganz zu schweigen. Aber wenn jede Einzelsendung eine Horrorshow radikaler Rechtsbrüche ist, wird aus ein paar Promille objektiv messbarer Schwerstkriminalität plötzlich subjektiv die Regel der amtlichen Kriminalstatistik. Dass sich in Umfragen viele schon mal um 450 Prozent aufwärts verschätzen, wenn es um die vermeintliche Zunahme typischer XY-Delikte geht, liegt aus Sicht des Kriminologen Christian Pfeiffer auch in deren Überpräsenz am Bildschirm. Gekillt wird ja nicht nur alle vier, fünf Wochen halbreal beim ZDF, sondern in Abertausenden von Krimis, die jährlich im Fernsehen zu sehen sind.

So weit die Rückseite der Medaille. Ihre Frontalansicht kann sich indes sehen lassen. Die Sendung lockt ja nicht nur Monat für Monat ein Millionenpublikum an; sie ist auch kriminalistisch ein Erfolg: 1853 der 4486 vorgestellten Straftaten wurden aufgeklärt, wie sich der Sender in einer Hochglanzbroschüre lobt. Der scheidende Bundesinnenminister Thomas de Maizière, qua Amt Schirmherr des »XY-Preises«, wünscht dem Format daher im Grußwort »weiterhin viel Erfolg im Kampf gegen das Verbrechen«. Schon weil sie, fügt BKA-Chef Holger Münch an gleicher Stelle hinzu, »fester Bestandteil der Öffentlichkeitsfahndung der deutschen Polizei« sei. Gut 2300 festgenommene Täter sprechen da für sich.

Wer allerdings alles zu Unrecht verdächtigt wurde, wie es Rudi Cerne einst selbst widerfuhr, als er 1978 mit einem RAF-Terroristen verwechselt wurde, welche Mischung aus Misstrauen, Argwohn, Denunziation Eduard Zimmermanns Erfindung in 50 Jahren nach sich gezogen hat, was solch eine Sendung also in den Köpfen der Betrachter auslöst - das böte trotz unbestreitbarer Aufklärungseffekte Stoff genug für eine Dokumentation ohne Lobeshymne.

Nächste Sendung: 25. Oktober, 20.15 Uhr, ZDF.

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